Alte Erinnerungen

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Je schöner und voller die Erinnerung, desto schwerer ist die Trennung. Aber die Dankbarkeit verwandelt die Erinnerung in eine stille Freude. - Dietrich Bonhoeffer

London, 03.01.1943


Heute wollte ich mein Glück versuchen eine Arbeitsstelle zu finden. Da Silvester gewesen war, hatten beinahe alle Geschäfte geschlossen gehabt und wenn sie geöffnet hatten, waren es sehr gruselige Läden gewesen in die ich mich nicht hineingetraut hatte. Also doch, einmal schon und dort hatte mich der alte Sack von Ladenbesitzer in eine Sekte zwingen wollen, ich war abgehauen und hatte mich versteckt, da er mich eine Zeit lang verfolgt hatte. Nach ungefähr einer Stunde hatte er aufgegeben und war von dannen gezogen. Das war dann auch der Moment, in dem ich entschieden hatte bis nach Silvester zu warten. Und jetzt stand ich hier, vor einem kleinen Bücherladen der ein süßes 'Wie die Bücher sind wir geöffnet!' Schild in der Glastür hängen hatte. Ich traute mich fast nicht hinein, ich liebte Bücher, aber im Waisenhaus gab es keinen Dickens oder Shakespeare, es gab Kinderbücher und demnach hatte ich vielleicht nicht die Grundvoraussetzungen dort zu arbeiten. Aber ich hatte extremen Hunger, eine heiße Dusche könnte mir auch nicht schaden und neue Unterwäsche wäre auch von Nöten. Also brauchte ich Geld und deswegen musste ich meinen Hintern da jetzt hineinbewegen! Ich nahm all meinen Mut zusammen und öffnete lächelnd die Tür. Hinter einem Bücherberg kam eine kleine Frau zum Vorschein, die etwa in meinem Alter sein musste, mich abweisend musterte und kalt sagte: "Was wollen Sie denn hier?" Es kostete mich etwas Selbstbeherrschung mein Lächeln aufrecht zu erhalten, aber ich schaffte es. "Ich würde gerne mit dem Ladenbesitzer über eine freie Stelle hier sprechen", sagte ich möglichst selbstbewusst. Sie zog eine ihrer perfekten Augenbrauen in die Höhe und warf ihr brustlanges pechschwarzes Haar über die schmalen Schultern. Sie war eine Schönheit, aber eine sehr kalte. Ich konnte sie jetzt schon nicht leiden, aber wenn ich hier eingestellt werden wollte musste ich mit ihr klarkommen. Sie grinste mich süffisant an, beugte sich etwas zu mir vor und raunte: "So eine wie du könnte vielleicht in einem Kinderheim arbeiten, aber doch nicht hier. Dies sind hochwertige Bücher, also verschwende doch nicht Charlie's Zeit und geh gleich -" Plötzlich unterbrach sie ein Mann, der hinter ihr auftauchte und ihr eine Hand auf die Schulter legte: "In mein Büro, dort können wir uns über deine Stelle unterhalten." Er nahm seine Hand wieder herunter und zeigte mit einer eleganten Bewegung hinter sich. Schnell lief ich in sein Büro und setzte mich auf den Stuhl gegenüber des Schreibtisches, auf dem er sich anlehnte und mich musterte. Es fühlte sich an als könnte er direkt in meine Seele schauen, mit seinen dunkelgrünen Augen. Blonde Haare, dunkelgrüne Augen und ein süßes Lächeln auf den Lippen. Er erinnerte mich sehr an meinen Kindheitsfreund Charlie. Ich hielt inne.
Hatte diese dämliche Kuh vorhin nicht gesagt er hieße Charlie? Das konnte doch beinahe nicht sein. Er war ein großer, muskulöser und sehr attraktiver Mann, der einen Buchladen führte. Charlie wollte früher immer Pilot werden. Das musste einfach ein Zufall sein.

"...Miss? Sind sie noch hier?" Grinsend schnipste mein eventuell zukünftiger Chef zwei mal vor meinem Gesicht und holte mich damit wieder zurück in die Realität. Ich wurde rot und nickte. "Entschuldigen Sie, ich war wohl in Gedanken." Er lächelte sein verzauberndes Lächeln und ich musste mich anstrengen, um nicht wieder in Gedanken zu versinken. "Ist in Ordnung. Ich bin Charlie, Charlie Edgecomb. Und ich führe diesen kleinen Bücherladen hier, wobei er nicht so klein ist wie er scheint." Mein Herz raste. Charlie Edgecomb. Es war kein Zufall, er war es. Das war mein Charlie. Aber wenn er sich nicht mehr an mich erinnerte? Ich konnte ihn damit nicht überfallen, er würde mich womöglich noch für verrückt halten. "Freut mich sie kennenzulernen, Mr Edgecomb", sagte ich also möglichst ruhig und zwang mich zu lächeln. "Um ihre Zeit nicht allzu sehr zu verschwenden," ich zwinkerte kurz um deutlich zu machen, dass ich den kleinen Ausbruch von seiner Angestellten mit Humor nahm, "ich bin hier, um zu fragen ob Sie noch eine freie Arbeitsstelle hätten. Es genügt auch, wenn sie höchstens eine Putzkraft einstellen würden, ich erledige jeden Auftrag." Er lachte wegen meines kleinen Scherzes und sah mich dann nachdenklich an. "Ich kenne doch nicht einmal ihren Namen, Miss." Überrascht von mir selbst platzte ein: "Oh!" aus mir heraus und ich kicherte. "Entschuldigen Sie bitte! Mein Name ist Hope Featherstone." Und erneut lächelte ich möglichst ruhig, aber beobachtete ihn genau, ob er irgendwie reagierte. Aber nichts, es war als wäre ich aus seinem Gedächtnis gelöscht. "Freut mich, Sie kennenzulernen", fügte ich noch hinzu. Es deprimierte mich irgendwie, dass er mich offensichtlich vergessen hatte, wo mein Herz doch extrem raste. Aber ich musste arbeiten, da durfte ich mein Privatleben nicht einbringen. Er lächelte wieder und sagte: "Mich auch. Aber wir sollten uns duzen, oder nicht?" Ich nickte erfreut und schlug meine Beine übereinander. "Ich hätte eine Stelle frei, du müsstest Fragen über Bücher beantworten, Bücher verkaufen und das Wichtigste: Du musst verhandeln. Die meisten wollen uns abziehen, aber solche Bücher hier haben großen Wert und wir müssen Gewinn herausziehen. Siehst du dich dazu im Stande?" fragte er. Ich überlegte einen Moment und nickte schließlich langsam. "Ja. Ich muss einiges an Vorwissen nachholen, da ich in meinem ... Heim ... nicht viele alte Bücher hatte, nur Kinderbücher. Aber verhandeln kann ich. Wie würde es denn mit dem Lohn aussehen?"
Er sagte direkt: "300 Pfund pro Monat." Ich runzelte die Stirn, das war dann doch ziemlich wenig. Aber vielleicht war das Ganze ja auch nur ein Test? "700 Pfund", erwiderte ich mit einem undurchschaubaren Gesichtsausdruck. "400." sagte er schnell.
Ich schüttelte lächelnd den Kopf. "550 Pfund und eine heiße Dusche für heute, dann haben Sie mich." Er beugte sich vor und murmelte: "Wir duzen uns, schon vergessen?" Er sagte das auf eine Art und Weise, die mich zum Erschaudern brachte. "Aber in Ordnung. Dann machen wir das so. Die heiße Dusche könntest du direkt jetzt bekommen, morgen kannst du mit dem Arbeiten anfangen, um 07:00 Uhr morgens beginnt deine Schicht, die du dir mit Maggie teilen wirst. Sie putzt morgen nur, du erledigst die meiste Arbeit. Du arbeitest auf Probe, das heißt mach möglichst wenig Fehler. Deinen ersten Lohn bekommst du am Monatsende, noch Fragen?" Ich musste mir Mühe geben nicht erschrocken nach Luft zu schnappen. Am Monatsende, das war viel zu spät! Ich brauchte eine Unterkunft, Essen, Trinken, eine Dusche und Unterwäsche! Ich würde hier ohne Geld nicht überleben bis Ende des Monats. Ich brauchte Geld und das schnell, was mein Magen bestätigte, in dem er sehr laut knurrte in genau diesem Moment. Oh, gott. Peinlicher ging es dann wirklich nicht mehr. Aber anstatt mich auszulachen sagte er: "Hast du Hunger, Hope?" Ich spürte meine Wangen brennen und schüttelte den Kopf, während ich angestrengt den Boden anstarrte. "Nur ein bisschen", erwiderte ich. Er seufzte und meinte: "Du kannst dir auch etwas aus meinem Kühlschrank nehmen, nach deiner Dusche. Einfach die Treppe dahinten nach oben, das Apartment über dem Laden ist meines." Ich stand schnell auf, bedankte mich und lief zur Treppe nach oben.

Oben angekommen sah ich mich staunend um, er hatte eine sehr hübsche Wohnung. Sie war klein, aber sehr gemütlich und farbig stimmig eingerichtet. Zu allererst ging ich zu seinem Kühlschrank und holte mir Brot und Butter, schmierte mir sehr viele davon und packte mir welche zur Mitnahme ein, drei Brote aß ich direkt. Mehr durfte ich aber nicht nehmen, sonst kam ich verfressen rüber. Dann lief ich in Richtung Bad, legte all meine Kleider ab und stieg in seine Dusche. Sobald das heiße Wasser auf meine Haut prasselte spürte ich einen wohligen Schauer, meine Muskeln entspannten sich und ich spürte wie ich mich aufwärmte. Ich wollte hier nie wieder weg, aber ich musste. Also stieg ich nachdem meine Haut schon ganz rot war aus der Dusche, schnappte mir ein Handtuch, wickelte mich damit ein und begab mich zu seinem Sofa, neben dem ein Radio stand. Besagtes Radio schaltete ich ein und dort lief das damalige Lieblingslied von Charlie und mir. Dieser Tag schien sich um ihn zu drehen, es machte mich ganz verrückt. Ich summte das Lied leise mit und während mich die sanften Töne entspannten, fühlte ich die Welt langsam immer dunkler um mich herum werden und ich legte mich wie von selbst hin, dann war ich auch schon in der Welt der Träume verschwunden.

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