Alte Geschichten

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Das Beste, was wir von der Geschichte haben, ist der Enthusiasmus, den sie erregt. - Johann Wolfgang von Goethe

London, 23.12.1930

"Morgen ist Weihnachten! Weih-nach-ten!" hallte es überall durch die Räume des Kinderheimes.
"Und Hope's Geburtstag!" rief Charlie dazwischen, seine Stimme konnte man deutlich ausmachen, auch wenn er erst seit einer Woche hier war. Es brachte mich zum Lächeln, dass er an mich dachte, denn Weihnachten und somit auch mein Geburtstag stimmten mich immer ziemlich nachdenklich. "Hey, Hope." Lily setzte sich neben mich. Sie war die Älteste hier, sie war 13 Jahre alt und sehr hübsch meiner Meinung nach. "Was wünschst du dir denn zum Geburtstag?" Ich überlegte kurz und sagte dann: "Puppe!" Sie lächelte und nickte. "Alles klar!" Und dann lief sie auch schon wieder zurück ins Wohnzimmer zu ein paar anderen Kindern. An Weihnachten gab es immer eine Gans, meistens reichte sie nicht für alle aus, aber ich bekam meistens ein großes Stück ab, weil ich Geburtstag hatte. Ein seltsamer Tag um Geburtstag zu haben.

So langsam gesellte ich mich auch zu den anderen. Alle feierten schon im Voraus, sangen Weihnachtslieder und tanzten um unseren kleinen Baum herum. Es war ein Kampf gewesen, das ganze Geld für den Baum aufzutreiben, aber jedes Kind hatte sein Erspartes dazugelegt und so hatten wir einen sehr hübschen Baum bekommen, den ich auch sehr bewunderte. Aber anstatt zu singen setzte ich mich auf einen Stuhl der am eckigen Holztisch stand und beobachtete die Kinder. Aber ich blieb nicht lange allein: Charlie setzte sich zu mir und wuschelte mir im Vorbeigehen durch die Haare. "Meine Eltern sind ausgewandert und haben mich zurückgelassen", sagte er plötzlich. Verwundert sah ich ihn an, wieso erzählte er mir das so plötzlich? Wirklich begreifen konnte ich es allerdings nicht. Da ich nicht wusste, was ich sagen sollte, sagte ich einfach nichts und sah ihn nur aufmerksam an. Als er verstand, dass ich nicht antworten würde seufzte er und sprach dann weiter, er lächelte aber dabei. "Ich weiß, du wirst morgen erst 4 Jahre alt und ich mit meinen 7 Jahren bin schon sehr alt für dich, aber du hast so gewirkt als bräuchtest du Gesellschaft. Also erzähle ich dir das, hm?" Er grinste mich an um mich aufzumuntern, aber ich spürte, dass er sehr traurig war. "In Ordnung", sagte ich und nickte. "Na gut, also: Meine Eltern und ich waren sowieso nie besonders wohlhabend, aber wir waren glücklich als Familie. Der 'War Plan Red' hat das allerdings zerstört." "War Plan Red?" fragte ich schnell, bevor mir der Name wieder entfiel. Er lächelte nachdenklich. "Stimmt, wie sollst du auch davon wissen? Der War Plan Red ist der Plan von den USA uns anzugreifen. Kurz gesagt: Kanada's britische Streitkräfte aus dem Weg schaffen und unsere Regierung in die Knie zwingen. Und aufgrund dieses Plans sind meine Eltern geflohen, es gab da gewisse Möglichkeiten. Aber Kinder waren nicht zugelassen bei diesen Möglichkeiten." Er lachte bitter. "Die Zukunft dieser Welt ist nicht zugelassen, kannst du das glauben? Nun, jedenfalls war es für meine Eltern eine einfache Entscheidung. Ich schätze ich kann mich glücklich schätzen, bei der Auswahl des Kinderheims haben sie es sich wenigstens genau angesehen. Und jetzt bin ich hier und hoffe darauf, 'neue' Eltern zu bekommen." Das waren alles sehr viele Informationen für mich und ich konnte meine ganzen Gefühle nicht einordnen, deswegen blieb ich weiter stumm. "Ich verstehe, dass du dazu nichts sagen kannst oder willst. Aber wie wär's wenn du mir etwas von dir erzählen würdest? Deine Erinnerungen an deine Eltern?" Ich schluckte, das hatte ich niemandem außer den Betreuerinnen erzählt. Aber ich schuldete ihm das, er hatte mir ja auch seine Geschichte verraten. Also nickte ich zögerlich und holte tief Luft. "Es ist nicht lang. Meine einzige Erinnerung an meine Eltern besteht darin, dass sie darüber diskutieren, wie sie mich nennen. Ich weiß nicht ob es stimmt, aber mein Papa sagte 'Sie ist das einzige, was wir haben, das an Hoffnung herankommt.' Und so wurde ich Hope genannt. Dann hat es an der Tür geklopft und es wurde nach beiden verlangt, ich erinnere mich nur noch an den Anfangsbuchstaben des Nachnamen des Mannes. Sie hatten Angst, aber wollten das tun, also gaben sie mich an das Kindermädchen ab. Sie war aber nicht besonders nett, deswegen hat sie mich vor vier Jahren genau morgen hier auf die Türschwelle gelegt und geklopft. Das ist auch schon alles, was ich weiß." Er sah mich schockiert an und wollte etwas sagen, da setzte sich Hannah dazu. "Wir haben alles mögliche versucht, um ihre Eltern ausfindig zu machen, oder wenigstens das Kindermädchen. Keine Spuren, nichts. Es ist als existierten alle drei überhaupt nicht." Dann stand sie auf, legte beide Hände auf meine Schultern, küsste meinen Kopf und murmelte: "Aber dafür bist du hier, wirst geliebt und versorgt. Dafür kann man dankbar sein. Und jetzt feiert schon, ihr beiden!" Sie hob mich hoch und stellte mich auf die Füße, Charlie wollte sich wehren also kitzelte sie ihn. "Ich muss nach der Gans sehen." Sie zwinkerte uns zu und ging in die Küche. "Na dann gehen wir mal mitsingen, hm?" meinte Charlie und nahm mich an der Hand. Die anderen sangen gerade immer wieder die erste Strophe von Jingle Bells, weil sie keine anderen Strophen kannten. Ich kicherte und stimmte leise die zweite Strophe an. "A day or two ago - I thought I take a ride..." Um mich herum wurde es langsam still und ich errötete. "Sing weiter!" sagte Hannah. "A-and soon Miss Fanny Bright..." Ich schüttelte den Kopf und sah nach unten. Hannah klopfte mit ihren Kochhandschuhen aneinander und sang weiter. "Was seated by my side! The horse was lean and lank, Misfortune seemed his lot..." Ich riss mich zusammen und sang dieses Mal etwas lauter mit. "We got into a drifted bank and then we got upsot!" Und dann sangen alle wieder den normalen Refrain. An diesem Abend hatte ich sehr viel Spaß, wobei ich immer wieder an meine Eltern denken musste und was mit ihnen passiert war.

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