Die seltsame Begegnung

43 4 0
                                    



Wir sind die Kinder der Zeit – und wir spielen wie die Kinder mit ihr. - Alfred Rademacher

London, 31.12.1942

"Au, verdammt!" Ich schlug mir mein Knie an einem herausstehenden Stück Holz an und fluchte. Seit einer Woche war ich jetzt schon auf der Straße und war bis jetzt besser vorangekommen als ich erwartet hatte. Ich hatte noch nicht viel Geld ausgeben müssen und hatte trotzdem überhaupt kein Geld mehr, wie es mir nach einem Griff in meine Tasche auffiel. Es war in diesem Moment gestohlen worden. "Hey!" rief ich und rannte der dunklen Gestalt nach, die offensichtlich der Dieb war. So viel zum Thema 'besser'. Es war ein kleiner Junge, denn nachdem ich ein paar Meter aufgeholt hatte konnte ich seine Umrisse klarer erkennen. "Warte doch!" Meine Stimme zog ein lautes Echo nach sich. Ich durfte nicht so viel Aufsehen erregen. Mittlerweile war ich nur noch wenige Meter von ihm entfernt, aber er war flink und bog in eine schmale Gasse ein, in der sogar ich als relativ schlankes Mädchen Probleme beim Rennen hatte. Ich verlor wieder an Geschwindigkeit, der Junge konnte dafür umso schneller sprinten, er hatte den Heimvorteil. In diesen Gassen war ich nie unterwegs gewesen und schon gar nicht abends. Schließlich endete die schmale Gasse und wurde breiter, also wollte ich gerade wieder aufholen, als ich von einer ziemlich dicken Gestalt am Wegesrand gepackt wurde. "Hey, Kleine", hauchte eine männliche Stimme in mein Ohr. Ekelhafter Mundgeruch stieg in meine Nase und ich musste mich beherrschen mich nicht zu schütteln vor Ekel. "Du siehst ja mal geil aus, Süße." Er zog mich näher an sich heran und eine von seinen Händen packte meine Brust. "Hey! Lassen Sie mich los, Sie Schleimbeutel!" sagte ich laut und biss ihm in die Hand, die mir gerade den Mund zuhalten wollte. Es schüttelte mich jetzt doch, seine Hand schmeckte extrem nach Drogenüberbleibseln. Er schrie auf und ließ ein wenig von mir ab, genau den Abstand den ich brauchte, um ihm gegen das Schienbein zu treten und wegzurennen. Vorbei an ein paar Obdachlosen, vorbei an noch mehr Perversen und vorbei an einem riesigen Gebäude, das ein großer Metallzaun umschloss. Als ich dieses Haus aus dem Augenwinkel sah und daran vorbeizischte zwang ich mich dazu, stehen zu bleiben und ein paar kleine Schritte zurückzugehen. Mit großen Augen betrachtete ich das Gebäude. Es war ziemlich neblig und auf dem Grundstück standen Grabsteine, aber irgendwie wirkte es anders. Bedrohlich, ja, aber irgendwie gab es mir ein Gefühl, das ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht erfassen konnte. Etwas gutes.
Ich war dabei mich in meinen Gedanken zu verlieren, da prasselten mir ein paar Regentropfen auf den Kopf und ich schreckte hoch. Für die paar vereinzelten Leute auf der Straße musste ich wie eine Irre gewirkt haben, die ein Haus anstarrt, deswegen war das nicht schlecht. Aber die paar Tropfen, die ich abbekommen hatte sollten nicht die Einzigen bleiben, denn es regnete schon ziemlich stark. Meine Haare waren schon durchnässt und meine Klamotten würden demnach auch nicht mehr lange auf sich warten lassen. Schnell sah ich mich um - in ein Motel konnte ich jetzt ja nicht mehr gehen, der Junge hatte mein Geld, das hatte ich total vergessen.

Gegenüber des großen Gebäudes fiel mir ein kleines Modegeschäft ins Auge, das ein großes Überdach hatte. Darunter würde ich die Nacht über bleiben, auch wenn es nicht wirklich sicher war, hatte ich bei dem Regen keine andere Wahl. Also lief ich schnell hinüber, setzte mich auf meinen Rucksack und betrachtete die Grabsteine gegenüber. Und das tat ich so lange, bis ich irgendwann einnickte und in einen traumlosen Schlaf fiel.

[...]

"Missy, ich muss den Laden öffnen." Ich wurde an der Schulter gerüttelt. "W-was?" murmelte ich verschlafen. "Ich muss den Laden öffnen, du blockierst die Tür!" Jetzt wurde ich grober gerüttelt. Sofort schrak ich auf. Hastig stand ich auf, nahm meinen Rucksack, entschuldigte mich und wollte mich auf meinen Weg ins Ungewisse machen, da sagte die Ladenbesitzerin: "Warte mal. Ich kenne dich irgendwoher." Langsam drehte ich mich wieder um und sah ihr ins Gesicht. Sie war älter als ich, aber nicht alt. Vermutlich 40 Jahre alt, oder so. Sie hatte blonde kurze Haare, die gelockt um ihren Kopf herumflogen und trug einen dunkelgrünen Mantel. Aber sie konnte mich nicht kennen, das war unmöglich. Also lächelte ich sie höflich an und sagte: "Das bezweifle ich stark, Miss. Wir haben uns noch nie getroffen." Nachdem sie die Tür aufgesperrt und mich hereingebeten hatte, betrachtete sie mich erneut. "Wie ist dein Name, Kind?" fragte sie. "Hope", antwortete ich. Ich bemerkte, wie sich ihre Augen ein kleines bisschen weiteten. "Und weiter?" Sie quietschte schon fast. "Featherstone?" Das klang eher nach einer Frage als nach einer Aussage, aber sie hatte es trotzdem verstanden und jetzt schlug sie sich die Hand vor den Mund. "Nicht doch ... "
Sie taumelte auf einen Stuhl. "Raus hier", bellte sie mich plötzlich an. "Wie bitte?" fragte ich ungläubig. "Verschwinde!" schrie sie. "Sonst hole ich die Wachen!" Erschrocken holte ich meine Tasche, zog schnell meine Jacke an und flüchtete aus der Tür. Was war denn mit dieser Frau falsch gewesen? Als ich zurückblickte hing das Schild 'Geschlossen' in der Glastür. Seltsames Ding, aber vielleicht hatte sie mich verwechselt. Ich musste allerdings planen, ich hatte kein Geld, kein zu Hause und kein Essen. Als erstes brauchte ich also eine Arbeitsstelle und die würde ich nicht finden, wenn ich nur ziellos herumlief. Also machte ich mich auf die Suche nach einer Stelle.



HopeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt