Der Abschied

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Die Eindrücke der Kindheit wurzeln am tiefsten.  -  Karl Emil Franzos

London, 05.05.1935

"Hope? Sag mal 'Piep'!" Ich kicherte leise und hielt mir den Mund zu. Charlie durfte mich nicht finden, er gewann sonst immer beim Versteckenspielen. Vorsichtig drückte ich mich noch tiefer in das Gebüsch vor dem Waisenhaus und machte mich so klein wie möglich. "Wo bist du denn, du kleiner Racker?" sagte er laut. Mist, er war ganz nah an mir dran. Ich musste die Luft anhalten, ja genau! Also tat ich wie geheißen, drückte mir die Hände auf den Mund und starrte gespannt auf seine Beine, die genau vor meinem Busch standen. Er hatte eine dunkelblaue Hose an, sie hatte zwei Löcher über dem linken Knie und seine Knie an sich waren dreckverkrustet. Er hatte bestimmt wieder Fußball mit den anderen Jungs gespielt. Ich mochte ihn sehr, er war lieb und hilfsbereit und wenn die anderen Kinder mich ärgerten verteidigte er mich. Außerdem war er drei Jahre älter als ich und irgendwie fand ich das lustig. Mittlerweile hatte ich keine Luft mehr und deswegen schnappte ich so leise wie möglich danach. Doch er hörte das natürlich und schwupp - da wurde ich in die Luft gehoben und angegrinst. Er hatte blonde Haare die ihm wild in alle Richtungen vom Kopf standen, ein kleiner Zweig der sich darin verfangen hatte brachte mich zum Kichern und ich sagte: "Baust du ein Vogelnest da drin, Charlie?" Er tat so als wäre er zutiefst beleidigt, setzte mich ab, holte den Stock aus seinem Haar und fuchtelte damit vor meiner Nase rum. "Wollen Sie sich duellieren, Mylady? Ich fürchte Ihnen fehlt das richtige Werkzeug dazu!" Und dann stupste er den Stock in meine Wange und lachte. Ich lachte auch und setzte mich ins Gras. Es war heiß, deswegen schwitzte ich etwas. Umso besser tat mir die kühle Brise die mir durch meine braunen Haare fuhr. Ich schloss die Augen und genoss es. Auf einmal spürte ich einen Arm um meine Schulter gelegt und öffnete meine Augen wieder um Charlie ganz nah an mir zu sehen. In diesem Moment starrten wir uns einfach nur in die Augen und mein Herz pochte ganz laut, während sich meine Wangen rot verfärbten. Aber wegsehen konnte ich nicht. Und er scheinbar auch nicht.

"Hope und Charlie sitzen auf 'nem Baum, knutschen rum man glaubt es kaum!" schrien plötzlich zweiJungenstimmen und als ich zu der Richtung sah woher sie gekommen waren standen da Jack und Henry, die Zwillinge des Hauses. Beide waren 10 Jahre alt, hatten tiefschwarze Haare und ebenso dunkle Augen, die im Moment schelmisch blitzten als sie auf uns zeigten. Ich fühlte meine Wangen brennen, aber Charlie lächelte sie nur ruhig an, zwinkerte und zog mich mit sich hoch. "Komm mit, Hope. Ich möchte dir was zeigen." Und stumm folgte ich ihm, mein Herz so laut pochend wie es nur konnte. Er brachte mich zu seinem Lieblingsbaum, einer Trauerweide am See. Da ich sie aber schon kannte, sah ich ihn nur fragend an. Er bemerkte meinen Blick und lächelte geheimnisvoll. "Ja, Hope, ich weiß, dass du diesen Baum schon kennst. Aber nicht, was sich darin versteckt." Und so nahm er meine kleine Hand und führte sie zu einer Lücke zwischen den Wurzeln. Dort tastete ich etwas ängstlich nach dem Inhalt des Versteckes und fand schließlich etwas viereckiges. Ich nahm es heraus und in meiner Hand lag eine filigrane hölzerne Kiste. Sie war klein, aber wunderhübsch, so fand ich. "Darin liegt etwas für dich. Wenn du wirklich nicht mehr weiter weißt im Leben, komm hierher und öffne diese Kiste, ihr Inhalt wird dir helfen." Das rührte mich sehr, aber ich wusste nicht warum er mir das geben sollte, deswegen fragte ich nach. "Dankesehr, Charlie... aber wieso gibst du mir das? Solltest du das nicht für dich selbst behalten?" Er sah mich schweigend an, als würde er über etwas nachdenken. Dann streichelte er mir durch meine Haare und murmelte: "Weil ich in etwa einer Stunde von einer Familie aufgenommen werde und es nicht mehr brauchen werde." Ich machte große Augen und starrte ihn perplex an. Innerlich zerbrach ein kleines Stück in mir und trotzdem wusste ich, dass mich das freuen sollte. Er bekam die Chance dazu, glücklich zu werden und eine gute Verpflegung zu bekommen. Aber er war mein bester Freund, mein Charlie. Und er hatte mir vor vier Jahren versprochen mich zu heiraten wenn wir groß sind! Das alles würde jetzt zu einer Erinnerung werden. "Hope... sag doch was." Seine Stimme klang verunsichert, zum ersten Mal in meinem Leben hörte ich ihn so reden. Aber ich wusste, dass er nicht gehen würde, wenn ich mich jetzt nicht für ihn freute. Es kostete mich sehr viel Beherrschung, aber ich strahlte ihn an, fiel ihm um den Hals und quietschte: "Glückwunsch! Hatte mich sowieso schon gewundert, dass dich noch niemand aufgenommen hat. So ein lieber Junge wie du ist doch das perfekte Kind, oder nicht?" Ich drückte ihn ganz fest und sagte dieses Mal leiser: "Glückwunsch, wirklich." Er drückte mich zurück und ich prägte mir das Gefühl seiner Umarmung ein. Sein Geruch, er roch nach Gräsern und nach Sommer, so beschrieb ich ihm das immer. Ich wollte das alles nicht vergessen, also musste ich es mir merken. Schließlich löste ich mich aus seiner Umarmung und lächelte ihn an, dieses Mal war es echt. "Ich hab dich lieb, Charlie." Er lächelte zurück, öffnete erst den Mund um etwas sagen, aber dann beugte er sich vor, schloss die Augen und ehe ich realisieren konnte, was passierte, lagen seine Lippen auf meinen. Nach dem ersten Schock schloss ich ebenfalls die Augen und erwiderte den Kuss. Es war mein erster Kuss und ich fand er hätte nicht schöner sein können. Mein Bauch kribbelte, mein Herz raste und ich fühlte wie mir schwindlig wurde. Es war als existierten nur er und ich in diesem Moment, aber leider war es viel zu schnell vorbei. Als er sich von mir löste fiel ich beinahe mit dem Gesicht voraus auf den Boden, aber ich lehnte mich an ihn und lächelte glücklich. "Das war mein erster Kuss, du Dieb", flüsterte ich. Ich spürte seine Brust vibrieren als er lachte. "Mylady, Ihnen fehlt immer noch das richtige Werkzeug für eine Revanche, geschweige denn ein Duell." Ich lachte und fühlte mich ziemlich seltsam. Ich war sehr glücklich, aber ich wusste, dass es nicht lange anhalten würde.

[...]

"Kommt Kinder, wir wollen Charlie jetzt verabschieden!" rief Hannah. Ich mochte sie, sie war lieb und kümmerte sich immer gut um alle Kinder hier. Schnell sprang ich auf und lief zur Tür, an der Charlie's zukünftigen Eltern standen. Neben ihnen zog er sich gerade die schwarzen Schuhe an, die jedes Kind hier hatte. Er grinste in die Runde als er fertig war und umarmte schließlich jeden. Zu mir ging er als Letztes und mir gab er einen Kuss auf die Wange. Ich wurde rot und sah grinsed auf den Boden, manche Mädchen kicherten. Er flüsterte mir noch ins Ohr: "Vergiss die Kiste nicht und vergiss mich nicht. Wir werden uns definitiv eines Tages wiedersehen." Ich nickte und umarmte ihn, dann stand er auch schon in der Tür. "Wir sehen uns!" rief er und die Drei traten hinaus in den Garten. Die anderen Kinder gingen nach drinnen um zu spielen, ich blieb an der Tür stehen und sah ihnen hinterher, bis ich sie nicht mehr sehen konnte. Die Tränen, die ich die ganze Zeit zurückgehalten hatte, kamen nun doch zum Vorschein und so lief ich schnell zu der Trauerweide zurück und legte mich still weinend in ihren Schatten.

HopeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt