Unsichere Entscheidung

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London, 04.01.1943 (Ein wenig später)

Ich wusste nicht, ob ich die Einladung annehmen sollte. Ich wollte mein Leben ändern und das war vermutlich eine große Veränderung. Ich wollte so mutig sein und dorthin gehen, aber er konnte auch ein komplett Bekloppter sein und mich irgendwohin schleppen und unsägliche Dinge mit mir treiben. Ich war mir wirklich nicht sicher und ich wollte am Liebsten eine Münze werfen. Aber abgesehen davon, dass ich keine Münze hatte, wäre ich sowieso nicht zufrieden mit dem Ergebnis und würde genau das Gegenteil tun wollen, ich kannte mich ja. Als mich Charlie allerdings dann sanft schüttelte, riss er mich aus meinen Gedanken. "Erde an Hope?" sagte er gerade, während er sich ganz nah vor mich stellte und mir in die Augen starrte. Mir wurde ganz heiß und ich starrte perplex zurück, bis er merkte, dass er mir gerade sehr nahe war. Ich könnte schwören seine Augen blitzten als er einen Schritt zurücktrat. "Das war sehr mutig von dir, ich kam leider erst unten an als die Officer's schon da waren. Aber Maggie hat mir alles erzählt... beeindruckend." Ich schüttelte lächelnd den Kopf. Das sah Charlie gar nicht ähnlich. Der alte Charlie hätte mir jetzt einen Vortrag darüber gehalten, wie gefährlich das gewesen war, aber er tat es nicht. "Ich hätte Maggie ja schlecht ihrem Schicksal überlassen können, oder nicht?" gab ich immer noch lächelnd zurück. "Oh, natürlich. Ich muss aber sicherstellen, dass -" Charlie konnte seinen Satz allerdings nicht beenden, da Maggie plötzlich neben ihm erschien und sich an ihn lehnte. "... dass es mir gut geht! Mir ist ganz schwindlig von dem Schock! Und ich glaube ich habe ein paar Verletzungen von seinen langen Nägeln. Mir geht's schlecht, Charlie." Und mit diesen Worten fasste sie ihn am Arm und lief in Richtung Büro. Über ihre Schulter warf sie einen Blick, der mich durchbohrt hätte, wäre das möglich gewesen. Ich verschränkte meine Arme und schüttelte grinsend meinen Kopf. Ach, so war das also. Die Frau wollte Charlie für sich allein! Da konnte ich noch meinen Nutzen daraus ziehen.
Aber zuerst mal zurück zur Realität: Ich sah mich um und entschied, die Bücher zu sortieren. Diese Unordnung war zwar liebenswert, aber für einen Kunden schrecklich, sollte er nicht alle Zeit der Welt haben. Also fasste ich mir ein Herz und begann aus den Regalen und Bücherstapeln auf dem Boden einheitliche Reihen von der gleichen Büchergattung einzusortieren.

"Puh! Das ist ein ganzer Haufen an Büchern gewesen." Ich wischte mir mit meinem Handrücken über die Stirn und warf einen kurzen Blick auf die Wanduhr. 18:23 Uhr zeigte sie mir an. Ich stand also langsam auf, da ich auf dem Boden gesessen hatte die ganze Zeit über und strich meine Kleider glatt. Dann trat ich an die geschlossene Bürotür heran hinter der sich immer noch das kleine Monster und Charlie befanden. Ich erlaubte mir ein kurzes, aber trauriges Lächeln. Mein Charlie! Der sich nicht mehr an mich erinnerte. Dann fasste ich mich wieder und klopfte zwei Mal entschlossen an die Tür. Ich hatte keine Unterkunft! Und ich konnte wohl schlecht jede Nacht bei Charlie schlafen, also musste ich mir eine Bleibe besorgen. Charlie öffnete auch sogleich die Tür und sah etwas verwuschelt aus. Seine Klamotten waren unordentlich und verrutscht und seine Haare sahen aus als wäre er frisch aus dem Bett gehüpft. Mit einem kurzen Blick an ihm vorbei stellte ich fest, dass Maggie ähnlich aussah. Ich lächelte wissend und fixierte meinen Blick wieder auf ihn. "Entschuldige bitte für die Störung, aber ich würde für heute gerne Schluss machen, für den Fall, dass diese Uhr richtig geht. Ich muss noch ... " Ich hielt einen Moment inne. Was sagte ich ihm jetzt? "Dinge erledigen", fügte ich dann schließlich schnell hinzu. "Morgen wieder um 7 Uhr morgens?" Er fuhr sich durch die ohnehin zerzausten Haare und schüttelte den Kopf. "Nein, eher so 8 Uhr abends. Wir haben hier ab und an Nachtschichten, an drei Tagen der Woche, die die Kunden auch erstaunlich gern nutzen.  Könntest du das morgen übernehmen?" Erstaunt nickte ich, das wusste ich natürlich nicht. "Dann bis morgen. Viel Spaß noch." Ich zwinkerte, warf meine Haare über meine Schulter und versuchte selbstbewusst zu wirken, während ich mich auf dem Absatz umdrehte und in Richtung Ausgang ging. Ich fühlte mich aber überhaupt nicht selbstbewusst, weswegen ich mir nicht so sicher war ob ich das gut rüberbringen konnte. Ich wollte gerade die Tür öffnen, als ich sanft an der Schulter festgehalten wurde. Ich drehte mich überrascht um und blickte in die dunkelgrünen Augen, die mich so lange verzaubert hatten. "Was für Dinge musst du denn erledigen?" fragte er direkt. Genau diese Direktheit warf mich ein wenig aus der Bahn, früher war er Schüchterner gewesen. Als ich nicht sofort antwortete sah er sich um und lächelte. "Du hast tatsächlich Ordnung in unseren Bücherhaufen gebracht." Sein Lächeln beruhigte mich ein wenig, aber was ich antworten sollte wusste ich immer noch nicht. "Na ja..." setzte ich an. "Ich besuche jemanden." Er musterte mich stirnrunzelnd, also warf ich schnell hinterher: "Ich will dich und Maggie wirklich nicht stören! Sie wird mich vermutlich umbringen, wenn du dich so lange mit mir beschäftigst." Dann schubste ich ihn leicht in die Richtung seines Büros und öffnete die Tür. "Bis dann." Schnell schlüpfte ich nach draußen und verschwand um die Ecke, ich ignorierte Charlie's stechenden Blick und mein etwas stechendes Herz und verschwand um die nächste Ecke.

Ich hatte jetzt zwei Möglichkeiten. Ich könnte versuchen mir einen Unterschlupf zu suchen, hatte allerdings kein Geld um dies zu tun. War es wirklich eine gute Idee, diesem Officer zu vertrauen? Er war immerhin ein Officer... außerdem wollte ich meine Eltern finden! Ich durfte meine Ziele nicht vergessen. Entschlossen machte ich mich auf den Weg zurück zu dem Gebäude, das ich neulich so lange angestarrt hatte. Ich musste das tun, was hatte ich denn zu verlieren? Im besten Fall war es einfach nur ein gruseliges Hotel. Ich verdrehte die Augen. Genau, Hope, ein gruseliges Hotel, dass dich als Gast einfach so beschenken will, was? Und noch als ich in Gedanken versunken war, stand ich erneut davor. Und erneut wurde ich auf irgendeine Art und Weise in seinen Bann gezogen.

Gerade als ich einen Schritt auf das Tor zumachen wollte, ergriff eine relativ kalte Hand meinen Arm, besser gesagt mein Handgelenk und zog mich knappe zwei Meter nach links, hinein in eine Seitengasse, bevor ich reagieren konnte. "He-!" Ich wollte aufschreien, aber mir wurde sofort der Mund zugehalten. Das wollte ich aber nicht auf mir sitzen lassen, weswegen ich in die zweite Hand biss, so fest wie es mir möglich war. Daraufhin ließ die Person ein bisschen locker, ich nutzte den Augenblick und schubste ihn von mir weg und rannte aus der Gasse ohne auch nur einen Blick hinter mich zu werfen. Allerdings stand ich jetzt wieder vor dem Tor und hinter mir war dieser Verrückte vermutlich immer noch. Ich seufzte, mir blieb keine andere Wahl. Ich lief schnell zum Tor und versuchte es zu öffnen, aber es war verschlossen. Verdammt. Ich kaute auf meiner Lippe und sah mich hektisch um, hinter mir hörte ich schon wieder schnelle Schritte. Also hüpfte ich kurzerhand hoch und kletterte das Tor hinauf. Auf Bäume zu klettern nützte wohl doch für etwas. Schneller als erwartet war ich schon oben, weigerte mich zu zögern und sprang direkt auf der anderen Seite wieder herunter. Ich atmete kurz durch und drehte mich langsam um. Was auch immer dieser Mensch da wollte, er musste entweder jetzt auch darüber klettern, oder dahinter stehen bleiben. Letzteres würde ich bevorzugen. Was ich allerdings sah, raubte mir den Atem. Es war ein Mann, irgendwie kam er mir bekannt vor. Allerdings war dieser Mann schon zur Hälfte oben am Tor! Ich drehte mich erneut um und begann zu rennen, quer über den Friedhof und schnell an möglichst einen Eingang zum Gebäude. "Hope, warte!" Als seine tiefe Stimme über den Platz hallte, blieb ich stocksteif stehen. Keine zwei Sekunden später spürte ich seine Gegenwart auch schon hinter mir. Ich drehte mich nicht um. "Woher kennst du meinen Namen?" Meine Stimme klang fest und entschlossen, ganz anders als das Chaos in mir. "Mein Name ist Hope Featherstone und ich bin minderjährig!" Er äffte mich nach. Aber hatte ich meinen Namen erwähnt? Ich denke nicht. "Ich habe meinen Namen nicht dazu gesagt..." murmelte ich. "Wie bitte?" Wenn das der Officer von vorhin war, klang seine Stimme jedenfalls ganz anders. Ich drehte mich also um, mit einem ausdruckslosen Gesicht und musterte ihn. "Wer sind Sie? Und woher kennen Sie meinen Namen? Ich habe ihn nicht erwähnt und Sie waren nicht anwesend." Es war nicht derselbe. Er war nicht dabei gewesen, dieser Mann war älter. Jetzt fing er an zu lachen und verschwand wieder, er lief zurück zum Tor, sprang darüber und war verschwunden. 

"Du hast dich ganz gut geschlagen, das muss man schon zugeben." Diese Stimme erkannte ich. Also drehte ich mich erneut um und sah dieses Mal ins Gesicht des Officers von vorhin. "Wer bist du? Und wer war dieser Mann?!" So langsam wurde ich wütend. Als er mir nicht antwortete, machte ich Anstalten wieder zu gehen, das wurde mir zu dumm. Doch dann sagte er leise: "Ich bin Matt." Und alles in mir gefror.

HopeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt