R Ü Y A
Sie wurde wach von einem Geruch, der sehr stark Kaffee ähnelte. Es dauerte eine Weile, bis sie begriff, dass es tatsächlich Kaffee war. Noch länger dauerte es, bis sie es schaffte so weit zu Bewusstsein zu kommen und die Benommenheit so weit abzuschütteln, dass sie bemerkte, dass der Kaffee einem Polizisten gehörte. Er lehnte an der Wand, das Gesicht zum großen Fenster gewandt, sodass sie die breiten Schultern und den trainierten Rücken bewundern konnte. Nicht, dass sie das tatsächlich zugeben würde.
Sie erstarrte. Was vermochte einen Polizisten mit einem Kaffeebecher dazu gebracht haben, in ihrem Krankenzimmer auf ihr Erwachen zu warten? Eine eisige Faust legte sich um ihr Herz. War etwa ihrer kleinen Schwester etwas zugestoßen?
Sie schaffte es kaum diesen Gedanken zu Ende zu führen. Ihre Kehle war zugeschnürt. Ehe sie eine Panikattacke bekam, die auf Vermutungen basierte, zwang sie sich zur Ruhe.
Als hätte er ihre wachsende Beunruhigung gespürt, drehte er sich zu ihr um. Sie schnappte hörbar nach Luft. Sein Anblick war ihr nicht unbekannt. Dichte, schwarze Brauen über zwei stechend blauen Augen, die sie unergründlich musterten. Hohe Wangenknochen in einem kantigen Gesicht, das scharf geschnitten wirkte. Er schaute sie so intensiv an, dass sich Rüya wie auf dem Präsentierteller fühlte. Schrecklich entblößt. Wahrscheinlich sah sie gerade nicht einmal passabel aus. Ihre Haare mussten wirr sein, ihr Gesicht verschlafen und fahl. Zumindest fühlte sie sich scheußlich. Sie ratterte ihren Kopf ab, um etwas zu finden, das sie sagen konnte. Doch, das einzige, das ihr einfiel war: »Es schickt sich nicht, dass Sie sich in meinem Krankenzimmer aufhalten.«
Sie hatte den Satz einfach in die Stille geworfen, die nur von einigen Geräten unterbrochen wurde. Ungeniert zog er eine Augenbraue hoch. »Waren wir nicht mittlerweile bei ›du‹?«
»Wo ist meine Schwester?«, überging sie seine Frage, die mehr Aussage als Frage war.
»Necmiye, meine Tante, ist mit ihr Essen gegangen.«
»Warum bist du hier?« Sie konnte den Argwohn, der sie bei seinem Erscheinen erfasste, einfach nicht abschütteln. Warum tat er das? Warum hatte er ihr mit den Betrunkenen geholfen? Warum hatte er auf dem Friedhof mit ihr geflirtet? Warum war er jetzt hier?
»Warum nicht?«, erwiderte er verschmitzt lächelnd. Sie war fasziniert von diesem Lächeln und von diesen Augen. Augenblicklich besann sie sich eines besseren. Wenn sie nicht aufpasste, würde der Teufel sie in eine Versuchung führen, was alles andere als gut für beide Beteiligten war. Mit dieser Ernüchterung richtete sie den Blick an die Decke und fühlte sich gleich viel unbehaglicher. »Es wäre mir lieb, wenn du bitte hinausgehen würdest.«
Es bedurfte nicht mehr und er marschierte in all seiner männlichen Eleganz aus dem Zimmer. Dabei machte er ein leicht zerknirschtes Gesicht. Bevor er die Tür öffnete, verharrte er. »Tut mir leid, dich in eine unbehagliche Situation gebracht zu haben. Wenn du dich besser fühlst, bin ich bloß in deinem Zimmer gewesen, weil mir deine Schwester das Versprechen dazu abgenommen hat. Ich stehe zu meinen Versprechen.«
Ohne ihr die Gelegenheit zu geben, etwas auf diese verblüffende Aussage zu erwidern, ging er aus dem Zimmer.
»Abla!« Selin fiel ihr um den Hals. Fest umklammerte sie ihre ältere Schwester, ganz so, als hätte sie Angst gehabt, sie für immer zu verlieren. Was wahrscheinlich ja auch so gewesen war, dachte sich Rüya. Beruhigend strich sie ihr über den Rücken, mühsam darauf bedacht ihre Müdigkeit Selin nicht anmerken zu lassen. »Canım benim [Mein Schatz]«, wisperte Rüya, die die Tränen in Selins Augen gesehen hatte.
»Schön, dass du endlich wieder bei Bewusstsein bist«, meinte Frau Arslan lächelnd. Dankbar lächelte Rüya der Frau zu. Zwar war es ein reichlich erschöpftes Lächeln, aber immerhin eins.
»Na, was hast du denn so gemacht ohne mich?«
Selin lugte zu ihrer Schwester. »Ich war nicht ohne dich!«, brüskierte sie sich. »Ich war die ganze Zeit hier. Außer die Nacht, als du hergebracht wurdest. Azad abi hat gesagt, dass ich nach Hause soll. Er hat mich gefahren und dann heute hat mich Necmiye teyze abgeholt und hergebracht. Ich habe ganz lange gewartet, aber ich war ganz brav, abla. Wirklich.«
»Aferin. [Hast du gut gemacht.]« Mit einem leicht benommenen Blick lächelte Rüya ihre kleine Schwester an. Frau Arslan, die Rüyas Erschöpfung bemerkte, brachte Selin dazu, sich von Rüya zu verabschieden. »Keine Sorge«, beruhigte sie Rüya, »ich passe gut auf sie auf. Mein Neffe Azad und ich bringen sie jetzt zurück.«
Es beunruhigte Rüya, dass sie nicht in der Lage war, auf ihre kleine Schwester aufzupassen und sie anderen anvertrauen zu müssen. Dabei kannte sie Frau Arslan auch nur vom Putzen und ihren Neffen eigentlich gar nicht. Trotz ihres Unbehagens war sie ihnen doch dankbar, dass sie ihr halfen. Nicht, dass sie es jemals offen zugeben wollen würde. Aber so war es nunmal.
Nachdem Selin und Frau Arslan weg waren, wurde sie von Müdigkeit übermannt. Sie schloss die Augen, um sich dem Schlaf zu überlassen. Doch kaum hatte sie sie zugetan, wurde die Tür auch schon aufgerissen. Munter trällernd marschierte eine junge Frau in Rüyas Krankenzimmer. »Wer war dieser Mann da draußen?«, war die erste Frage, die aus ihrem Mund kam. Ihre Augen glänzten aufgeregt, als sie sich zu Rüya aufs Bett setzte. Diese seufzte tief. »Du kommst jetzt? Ich wollte gerade schlafen.«
Trotzdem konnte sie ein Lächeln nicht verbannen. Sie freute sich, dass sie Besuch hatte. Und das wusste die junge Frau natürlich. Ihr Grinsen vertiefte sich. »Ich weiß genau, wie sehr du mich hier willst!«
»Wie kommst du denn darauf?«
Auf die Frage erntete sie ein Augenzwinkern. »Beantworte du mir jetzt lieber meine Frage. Der Typ in Uniform, du weißt schon!«
Theatralisch stieß Rüya einen Seufzer aus, versuchte sich in eine bessere Position zu setzten, ohne die Sauerstoffschläuche zu behindern. Sie zog eine Mine, die hoffentlich deutlich machte, wie wenig sie diese Unterhaltung führen wollte. Doch natürlich musste das Grinsen, gegen das sie nicht ankam, alles kaputt machen. »Er heißt Azad«, gestand Rüya. »Er ist Necmiye Arslans Neffe, die Frau, mit der ich am Wochenende putze.«
Erwartungsvoll schaute sie die Frau an. »Ja, und weiter?«
»Nichts weiter.«
»Falls du es vergessen haben solltest, ich kriege alles mit! Du brauchst erst gar nicht so eine Unschuldsmine ziehen! Komm, gib's schon zu, er gefällt dir!« Sie quietschte beinahe vor Freude. Freude, die Rüya natürlich nicht nachvollziehen konnte. Vehement erwiderte sie: »Nein, tut er nicht!«
»Oh, doch!«
»Nein!«
»Leugnen bringt nichts! Dir gefällt er. Ein Typ, der sich Sorgen um dich und Selin macht, obwohl er euch gar nicht kennt. Der dich beschützt, ohne dass du weißt, weshalb. Der Selin anscheinend auch gefällt und der gut mit ihr umgeht...« Sie hatte ins Schwarze getroffen mit ihren Worten, aber Rüya hütete sich davor, das offen zuzugeben. Da war eben die Frage, weshalb er es machte. Als hätte die Frau ihre Gedanken gelesen, meinte sie gelassen: »Weil er dich eben auch mag. Er scheint mir nach einem guten Mann zu sein.«
»Er kennt mich doch gar nicht, wie soll er mich da denn mögen?«
Tadelnd schnalzte die Frau mit der Zunge. »Du hast einzigartige Locken. Wild und ungestüm. Du hast ein zartes Gesicht. Für deine veilchenblauen Augen würden so einige töten, das ist dir doch bewusst? Du bist so unschuldig, Rüya. Wie soll man dich denn nicht mögen?«
»Meine Locken sind eine Katastrophe. Nicht zu bändigen. Meine Augen sind stinknormal. Warum sollte jemand für sie töten wollen? Mein Gesicht ist viel zu rundlich. Und ich bin nicht unschuldig. Ich habe genug gesehen, um zu wissen, dass ich nicht mehr unschuldig bin.«
»Rüyam [Meine Rüya], denk nicht daran, okay? Dir muss es jetzt besser gehen. Du darfst nicht daran denken. Es war nicht deine Schuld.« Zärtlich strich ihr die Frau einige Locken aus der Stirn. Es war erschreckend, wie schlecht es Rüya zu gehen schien. Es tat der jungen Frau im Herzen weh für Rüya, dass sie jeden Tag mit der Last der Vergangenheit lebte. Dass sie nicht erkennen konnte, was die Wahrheit war. Die Vergangenheit hatte Rüya in ihren Krallen und das konnte sie nicht erkennen. Sie gab Rüya einen Kuss auf die mittlerweile schweißfeuchte Stirn, strich ihr mehrmals beruhigend über den Kopf, als Rüya schwerer Atem zu holen schien. »Es wird gleich wieder. Es wird alles gut. Alles wird gut«, besänftigte sie sie dabei immer wieder. Wie ein Lied. Rüya find an einige Suren vor sich hin zu rezitieren. Manchmal half ihr das, sich zu beruhigen und wieder Atem zu bekommen. Sie bemerkte nicht, wie ihre Wangen von Tränen benässt wurden. Sie bemerkte auch nicht, wie sie sich zur Kugel zusammenrollte. »Ich vermisse dich so sehr...«, stieß sie mühevoll aus. »Allah soll dich beschützen.«
»Das tut er, Rüyam. Er beschützt uns alle.«
Sie bemerkte nicht, wie eine Krankenschwester zu ihr ins Zimmer kam. Statt den Schläuchen, die in ihrer Nase steckten, gab sie Rüya jetzt eine Maske. »Ganz ruhig, kein Grund zur Panik. Es ist alles okay.«
Sie versuchte Rüya zu trösten, ihr die Angst und die Tränen zu nehmen, aber sie wusste nicht, dass es unmöglich war. Wenn man das erreichen wollte, müsste man die Vergangenheit ungeschehen machen. Leider war das nicht möglich.
»Mit wem haben Sie vorhin gesprochen, Rüya?«, fragte die Krankenschwester. Die junge Frau war jetzt weg, auch als Rüya sich nach ihr umsah. Leise und resigniert antwortete sie: »Mit niemandem«, legte sich dann auf den Rücken und schloss ihre Augen.
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Wandelnder Traum
Mystery / Thriller»Wenn du eine Lüge lebst, wirst du sie irgendwann so sehr verinnerlichen, dass sie zu deiner Wahrheit wird.« -Rüya »Du darfst nicht in der Vergangenheit leben, sonst wird sie zu deiner Zukunft, Rüya.« -Azad Könnten sich Träume wandeln, würde deiner...