Achtundzwanzig

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A Z A D


»Azad!« Ein angestrengtes Flüstern stieß an seine Ohren. Verwundert drehte er sich um. Nur um den Kopf seiner wunderschönen Braut durch die Türöffnung zu vernehmen. Wie aus Eis starrte er sie an. Ihm klappte der Mund auf. »Rüya?«
»Nicht jetzt, du kannst mich später bewundern«, herrschte sie ihn an. Ihr Gesicht schimmerte vom Make-up und ihre Augen glitzerten, wenn sie sie schloss. Sie sah aus wie eine komplett andere Person. »Azad«, lenkte sie wieder seine Aufmerksamkeit auf sich. Er bemerkte den gestressten Unterton. »Selins Kleid ist nicht mehr da und wir finden es nirgendwo. Kannst du bitte im Auto nachschauen?«
Sie war fast schon panisch. Azad zog die Augenbrauen zusammen. »Sie hatte es doch in der Tüte?«
»Ja, aber die Tüte ist weg! Die Zeremonie fängt bald an und ich muss noch in mein Kleid und alles ist gerade so stressig und Selins Kleid ist einfach weg!«
Sie wagte es nicht, mehr als nur ihren Kopf aus dem Türrahmen zu stecken. Allein das war schon mehr, als viele andere Männer vor der Zeremonie zu sehen bekamen. »Okay, ich kümmere mich darum. Geh dich fertig machen.«
Er entfernte sich von der Tür und joggte zum Auto rüber. Als er die Räumlichkeiten des Friseurs endlich hinter sich ließ, war er dankbar für die einigermaßen herrschende Stille. Eigentlich hätte Rüya bereits fertig sein sollen, denn der Fotograf würde nicht lange auf sich warten lassen. Azad warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Ja, sie hatten nicht mehr allzulange Zeit.
Selins Kleid war auch im Auto nicht zu finden. Er fluchte verhalten vor sich hin. Wo konnte so ein Kleid bloß hin verschwinden?
Das war die große Frage, die es zu lösen galt. Drinnen fragte er nach einer Friseurin, die ihm weiterhelfen sollte. Sie nickte, ebenfalls etwas gestresst, und half Azad dabei zuerst den vorderen Bereich abzusuchen. Da Azad allerdings nicht in den hinteren konnte, wenn er seine Braut nicht verärgern wollte, nahm ihm die andere Friseurin diesen Teil des Jobs ab. Als sie wieder zurückkehrte, erzählte sie ihm von der glücklichen Fügung, dass man das Kleid endlich gefunden habe.
Es dauerte noch eine ganze Weile bis Rüya schließlich rauskam. Azad setzt sich auf eine Besucherbank, die Arme auf den Beinen abgestürzt und die Hände wie im Gebet gefaltet das Gesicht abstützend. Der Boden vor ihm blieb reglos und still. Es war nun tatsächlich so weit. Er würde seine Heirat mit Rüya Özdemir offiziell machen. Rüya, das Mädchen mit den schwarzen Locken und den grauen Wolken in ihren Augen. Rüya, Rüya, Rüya. Der Traum, den er nie zu träumen gewagt hatte. Seine Gedanken schweiften zu dem Treffen mit Nico. Zu dem braunen Umschlag und seinem Inhalt. Zu der Frage, ob das, was er tat, wirklich richtig war. Wahrscheinlich nicht. Wahrscheinlich war er der größte Mistkerl überhaupt, weil er sein eigenes Glück bevorzugte als das der anderen. Denn er wusste, Rüya hatte etwas viel besseres verdient als ihn. Scheiße, es ging ja nicht mal mehr um Rüya. Auch Selin war in die ganze Sache involviert. Sie war ein kleines Kind, aber auch sie verdiente so viel mehr. Vom Leben. Von ihm. Insgesamt. Aber er konnte beim besten Willen keinen Rückzieher machen. Wollte das auch gar nicht. Rüya und Selin waren seine Familie. Sie waren der Grund, warum er überhaupt noch fühlen konnte. Warum das Lachen in sein Gesicht zurückgekehrt war und warum er jeden Tag mit diesem ganzen Mist zurechtkam. Sie waren der Grund, dass er Polizist war. Das, was ihnen widerfahren war, sollte niemanden passieren.
»Hey, Loverboy.« Der Platz neben ihm wurde von Joshua eingenommen. Er hatte ein Glas Wasser in seiner Hand und Azad wusste, dass er, wäre es nicht Azads Gesellschaft gewesen, wahrscheinlich irgendein alkoholisches Getränk trinken würde. Aber sein Partner war nicht dumm und er wusste, dass Azad kein Fürsprecher des Alkohols war. Also nahm er Rücksicht darauf und vielleicht wusste er auch, dass Alkohol in der Gegenwart von Cara alles nur schlimmer machte. Denn Cara würde kommen und sie würde es auch merken, wenn er getrunken hatte. Cara war ein noch größerer Feind des Alkohols als es Azad war. Sie saßen schweigsam beieinander und ließen die Welt um sich ziehen. Irgendwann hielt Azad es nicht mehr aus. »Spucks schon aus, Adams«, meinte er genervt und drehte sich zu seinem Partner. Der grinste ihn verwegen an. »Wow, trotz unserer fast schon telepathischen Verbindung ziehst du es vor, mich zu verlassen und dieses blutjunge Mädchen zu heiraten.«
Azad hob seine Augenbraue. »Hätte ich erneut die Wahl, würde ich wieder sie wählen. Wer will schon dich?«
»Autsch, Kaya, autsch! Hab Nachsicht! Da werde ich schon von dir verlassen, dann brauchst du nicht auch noch auf meinem Herzen rumzutrampeln.« Er seufzte theatralisch. Azad verstand, was Joshua eigentlich sagen wollte. Es war seine Art zu fragen, ob sich Azad wirklich sicher dabei sei Rüya zu heiraten. Er sprach ihr junges Alter und die Tatsache, dass der Entschluss seiner Meinung nach zu schnell gekommen sei, an. Rüya war tatsächlich jung. Gerade einmal zwanzig Jahre. Azad war um die fünf Jahre älter als sie. Aber das Alter wurde nicht immer definiert von der Zeit, die man gelebt hatte. Das Alter machte auch die Erfahrungen aus und Rüya hatte welche gemacht, die sie in einem Jahr wie fünf Jahre älter gemacht hatten. Sie hatte einen brutalen Abschied von ihrer Familie nehmen und ihr Leben komplett neu gestalten müssen. Sie musste gegen psychische sowie physische Probleme ankämpfen, während sie eine kleine Schwester hatte, die auf sie zählte.
»Ich hätte niemals gedacht, dass ich diesen Tag mal erlebe«, lachte Joshua. Sein Lachen folgte Azad. Ja, auch er hatte nicht gedacht, dass das passieren würde. Aber manchmal wird das, was wir uns nicht einmal in unseren kühnsten Träumen wünschen, zu unserer Wahrheit.

Azad konnte den Blick nicht von seiner Braut abwenden

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Azad konnte den Blick nicht von seiner Braut abwenden. Ein genauer Beobachter würde sehen, wie sehr seine Augen an ihren hochgesteckten Haaren und ihrem funkelnden Augen hängen blieb. Wie sehr er ihr glückseliges Lachen liebte, wenn einer der Gäste ihnen beiden gratulierte. Er würde auch sehen, dass es Rüya nicht anders ging. Ihr Herz schlug schneller, wenn er ihre schmale Hand in seine nahm. Ihr Körper bebte als seine Lippen ihren Weg zu ihrer Stirn fanden.
Joshua alberte den ganzen Tag herum und machte ständig Fotos. Wer brauchte schon einen Fotografen, wenn er Joshua hatte? Von Zeit zu Zeit flüsterte Azad Rüya immer mal wieder Sachen ins Ohr. Kleine Bekenntnisse, Nettigkeiten. Er konnte es kaum erwarten endlich mit ihr alleine zu sein. »Habe ich dir schon gesagt, dass ich dieses Kleid von dir liebe?«, hauchte er ihr diesmal ins Ohr. Seine Finger fanden ihre Taille und er strich sanft über ihre Seiten. Die neckische Spitze an Armen, Schultern und Dekolleté reizte ihn und wären sie alleine, hätte er viel mehr gemacht. Er spürte, dass sie leicht erschauerte. Sie warf ihm einen erhitzten Blick so. Gerötete Wangen, rastlose Augen, volle Lippen. Er ließ die Hände weiter nach vorne wandern, zog sie näher an sich, sodass er sie praktisch umarmte. Dann schob er mit dem Kinn den weißen Schleier zur Seite und vergrub die Nase in ihrer Halsbeuge. Rüya erschauerte und legte ihre Hände auf seine. Sie sah so jung aus, fand Azad. So verdammt jung und unschuldig. Trotzdem hatte sie sich entschlossen, ihn zu heiraten. Und dabei nicht einmal gezögert. Er hauchte einen Kuss auf die Stelle zwischen Hals und Nacken. Eine Gänsehaut erfasste Rüya und ließ sie erzittern. Automatisch legte sie den Kopf nach hinten; ihm näher. Er ließ einen kleinen Schauerregen von Küssen auf ihren Nacken regnen, arbeitete sich seinen Weg zu ihrem Ohr. »Gott«, seufzte er, »können wir nicht einfach verschwinden? Bitte?«
Ein Pfiff katapultierte beide zurück in die Gegenwart. »Ich fasse es nicht, ihr Turteltauben!«
Azad seufzte genervt und stieß ein gefährliches Knurren aus. »Hättest du nicht wenigstens so tun können als seist du nicht da?«
Rüya wurde knallrot und bedeckte das Gesicht in ihren Händen. Beschützerisch verstärkte er den Griff um ihre Taille. Joshua grinste verschmitzt. »Hättest du wohl gerne, du Aufreißer. Ich rette deine Braut bloß vor einem Überfall, obwohl sie nicht so aussieht, als würde sie Hilfe brauchen.«
»Oh Gott«, stöhnte Rüya peinlich berührt. Joshua musste lachen. »Ist nicht so, als würde nicht jeder wissen, was ihr später so treiben werdet, Süße«, meinte er belustigt. »Hör auf!«, kreischte Rüya schon fast und versteifte sich noch mehr. Azad funkelte seinen Partner und Trauzeugen böse an. »Hör auf meine Frau in Verlegenheit zu bringen.«
Joshua brach in schallendes Gelächter aus. »Gib's zu, du hast nur auf den Moment gewartet, um das zu sagen! Außerdem spreche ich hier nur die Wahrheit. Es ist kein Geheimnis, was in einer Hochzeitsnacht alles passiert.«
»Joshua!«, schrie Rüya hysterisch. »Ich erwürge dich gleich mit diesem Schleier, wenn du nicht sofort aufhörst!«
Er gluckste. Azad seufzte noch einmal und warf einen Blick auf die Uhr. Noch viel zu lange, bis er endlich mit Rüya alleine sein konnte. Joshua hob die Hände. »Oha, das wäre Mord! Mein Partner müsste dich verhaften.«
»Oder er wird einfach zum Mittäter«, murmelte Azad. »Mord klingt gerade ganz interessant.«
Trotz allem kehrten sie zurück zu ihren Gästen. Und dann dauerte es nicht mehr lange, bis Azad und Rüya tatsächlich endlich gehen konnten. Selin wurde von Joshua ins Heim zurückgebracht. Das kleine Mädchen verabschiedete sich weinerlich von ihrer Schwester, die ihrer Meinung nach wie eine Prinzessin aussah und ihrem frisch angetrauten Schwager. »Pass gut auf meine Schwester auf«, befahl sie Azad als sie ihre Arme um seinen Hals schlang und ihm gestattete, sie auf die Wange zu küssen. »Und du auch auf dich, kleine Prinzessin. Was sollen wir schließlich ohne dich machen?«
Sie hatten nichts Näheres besprochen, würden aber bald einen gemeinsamen Antrag auf das Sorgerecht für Selin stellen. Das Mädchen musste endlich zu ihnen. Sich ständig von ihr trennen zu müssen, fiel ihm immer schwieriger.
Schließlich waren sie im Auto und Rüya schloss erschöpft ihre Augen. »Nie wieder möchte ich, dass so viele Leute kommen!«
Azad gluckste und griff nach ihrer Hand. »Das waren nicht viele, Rüyam
Sie schaute ihn nur ungläubig an und Azad musste wirklich an sich halten, sie nicht mit einem Kuss zu überfallen. Das hebte er sich für später auf. Schließlich war da doch noch die Hochzeitsnacht, oder nicht?

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