Neunundzwanzig

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R Ü Y A


Ihr Spiegelbild strahlte ihr entgegen, als Rüya sich auf dem Boden des Schlafzimmers sitzend, versuchte zu schminken. Ihre Locken hatte sie bereits geglättet, sodass sie ihr flüssig über die Schulter flossen. Azad kam herein und war noch dabei seine Manschettenknöpfe zuzuknöpfen, als er all die auf dem Boden verstreuten Pinsel und Paletten entdeckte. Und natürlich seine wunderschöne junge Frau, die zu ihm aufschaute. Er stieß einen leisen Pfiff aus. »Geht's irgendwo besonderes hin von dem ich wissen sollte?«, fragte er leicht misstrauisch. Und mit einem leisen Anflug von Eifersucht, gepaart mit großem Bewundern. Rüya musste lächeln. Sie waren nun schon seit drei Wochen verheiratet und es war die erste Woche, in der Azad wieder arbeiten gehen würde. Sie - nun ja, sie überlegte, ob sie nicht ihr Abitur nachholen wollte, um dann ein Studium zu beginnen oder ob sie nicht eine richtige Ausbildung machen wollte, die sie interessierte. »Nein«, erwiderte sie glücklich, »ich werde bloß gehen und mich mit Tante Necmiye treffen.«
»Warum machst du dich dann so hübsch?« Er konnte nicht aufhören sie anzuschauen. Ihre Bewegungen waren fast schon hypnotisch. Sie warf ihm einen ungläubigen Blick zu. »Warum nicht?«
Azad zog seine Augenbraue hoch. Er war nun vollständig angezogen und bereit zu gehen. Rüya schüttelte den Kopf. »Egal. Gehst du jetzt?«, fragte sie und als er bejahte erkundigte sie sich mit eindeutiger Sorge in der Stimme: »Willst du vorher wirklich nicht essen?« Sie erhob sich und hastete an ihm vorbei in die Küche. Er folgte ihr. »Nein.«
Sie machte etwas mit kurzen Handgriffen und reichte ihm dann eine Dose, die sie mit Essen gefüllt hatte. Er nahm sie entgegen. »Oh!«, stieß sie aus, reichte um ihn herum und holte dann noch einen Apfel von der Anrichte. »Nimm den auch mit.«
»Baby, ich gehe bloß arbeiten. Ich werde schon nicht verhungern.« Azad musste schmunzeln. Rüya blinzelte zu ihm auf. »Iss einfach dein Essen, ja?«
Dann lachte er und Rüya liebte es seine blauen Augen aufstrahlen zu sehen. Er wirkte immer gelöster und entspannter, wenn er wirklich lachte. Im Allgemeinen war er in der letzten Zeit viel lockerer geworden, als sei eine große Last von ihm abgefallen. Der Unterschied war minimal, aber er war da. »Stellt nichts verrücktes mit Necmiye Teyze an, okay? Und bleib nicht bis ganz spät draußen.«
Rüya begleitete ihren besorgten Ehemann noch bis zur Tür und verabschiedete ihn schließlich herzlich. Sie stand noch kurz vor der geschlossenen Tür. Sie war eine Ehe mit Azad eingegangen, weil sie sich unbedingt vor der Unzucht, die in ihrer Religion, dem Islam, verboten war, schützen wollte. Azad war der Mann, dem ihr Herz gehörte und in den paar Wochen vor ihrer Heirat, die sie unweigerlich zusammen verbracht hatten, war das immer stärker hervor getreten. Die Ehe ist ein Mittel, die Keuschheit der Gesellschaft zu wahren - von der eigenen abgesehen. Außerdem war sie sich sicher, was die Beziehung mit Azad anging. Sie wollte nichts, das nicht auf Ernsthaftigkeit gegründet war. Eine Ehe verschaffte ihr genau diesen Vorteil. Sie wurde gesetzlich als Azads Partner und Azad als ihrer anerkannt. Nach den ersten Wochen eines gemeinsamen Lebens war sie definitiv zufrieden mit ihrer Entscheidung. Es fühlte sich gut an, Azad als ihren Ehemann zu bezeichnen.
Mit diesen Gedanken betrat sie das Arbeitszimmer, das sich Azad eingerichtet hatte. Sie wollte etwas Ordnung in all die Unordnung, die er hier reingebracht hatte, bringen. Also fing sie an alles aufzuräumen, bis sie auf einen gelben Umschlag stieß. Verwundert betrachtete sie es, eingekeilt zwischen zwei Büchern und verstaut hinter dem halb eingerichteten Bücherregal. Kurz verharrte sie, dann griff sie danach. Irgendwie hatte sie ein ziemlich mulmiges Gefühl. Warum war dieser Umschlag versteckt und nicht bei all den anderen Zetteln und Briefen? Sollte sie ihn öffnen und einen Blick wagen? Unschlüssig drehte sie den Umschlag in ihren Händen hin und her. Das Papier darin fühlte sich dick an. Keine Aufschrift, sorgfältig wiederverschlossen. Sie warf einen Blick zu den anderen Blättern auf dem Schreibtisch. Wieder auf den Umschlag. Lautstark meldete sich das mulmige Gefühl in ihrem Bauch. Was wohl darin enthalten war? Sie nahm einen tiefen Atemzug, sprach die Basmala und nahm somit Zuflucht bei Allah, dann legte sie den Umschlag wieder zurück. Sie hatte keine Ahnung, was es enthielt, noch wusste sie, ob sie es wirklich wissen wollte. Vielleicht war es auch einfach etwas, das mit seiner Arbeit zu tun hatte. Sie würde nicht sein Vertrauen missbrauchen und den Umschlag öffnen. Wahrscheinlich war es etwas, das sie aus rechtlichen Gründen nicht einmal sehen durfte.

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