Sieben

3K 201 103
                                    

R Ü Y A



Ihr Herz klopfte. Wie wild. Es klopfte als würde es niemals aufhören wollen zu schlagen. Es klopfte, als würde es Flügel bekommen und jeden Moment davonfliegen. Sie konnte nicht anders, als in seine verdunkelten Augen zu sehen. Sie erinnerten sie an tiefe Saphire. »Mir geht's gut«, wisperte sie zittrig. Nahm tief Atem. »Er...er, der Mann wollte...er wollte...« Unerwartet quollen die Tränen aus ihren Augen, liefen ihr heiß über die Wange. Schniefend wischte sie mit dem Ärmel ihres Oberteils weg.
»Okay, ganz ruhig«, besänftige sie Azad. Rüya war froh darüber, dass er sie nicht tröstend anfasste oder ihr zu nahe kam. Er ließ ihr Platz und Freiraum. Schluchzend nickte Rüya, während sie den Blick in den Himmel richtete.
»Reg dich ab, komm wieder zu dir. Ich kümmere mich so lange um die anderen.« Etwas gleichgültiger, als hätte er die Emotionen von sich abgeschüttet, machte er sich sogleich darauf, die Schaulustigen von den Zeugen zu unterscheiden. Ersteren wurde aufgetragen, zu gehen. In der Zwischenzeit war ein Krankenwagen aufgetaucht und ein bewusstloser Mann, der laut Aussage des Opfers versucht hatte, sie zu überfallen, wurde auf eine Trage befördert. Azads Partner versuchte die hysterische Frau zu beruhigen, die ständig versuchte zu erklären, was vorgefallen war. Doch die Panik und der Schock des Geschehens ließen den Sinn zwischen ihren Sätzen und Wörtern fehlen. Es dauerte einige Zeit, bis schließlich die meisten Zuschauer zwangsweise weggingen. Fest stand, dass sie Rüya erwähnte und sie irgendwie in das Geschehen mit hineingeraten war. Es dauerte fast eine Stunde, bis sich die Lage einigermaßen beruhigt hatte. Joshua war dabei, die Aussage des Opfers aufzunehmen. Rüya kannte sie nur vom Sehen. Sie wohnte im Haus gegenüber von ihr und war eine Tänzerin aus einem der Stripclubs in der Nähe. Sie schien vielleicht ein, zwei Jahre älter zu sein, als Rüya es war. Bisher war sie ihr nie negativ aufgefallen. Viele aus dem Viertel arbeiteten als Tänzerinnen oder Prostituierte, um sich ihren Lebensunterhalt verdienen zu können. Rüya selber wusste, wie schwer es war, das nötige Geld aufzutreiben. Sie verurteilte Louise nicht für die Arbeit, die sie verrichtete, selbst wenn sie für Rüya zutiefst zuwider war.
»Ich brauche deine Aussage«, riss sie Azad aus ihren Gedanken. »Möchtest du mit aufs Revier kommen oder ist es hier in Ordnung?«
Das letzte, das Rüya jetzt gebrauchen konnte, war von der Polizei mitgenommen zu werden. Erschöpft räusperte sich, schlang die Arme fester um ihre Mitte. »Es geht hier.«
Statt einer Antwort bedachte er sie bloß mit einem durchdringenden Blick. Seine Haare waren auf eine unwiderstehliche Weise verstrubbelt, so als wäre er mehrere Male mit der Hand durch sie hindurchgefahren. Sein Blick war so intensiv, das sich ihr Magen zusammenzog. Der ernste, leicht grimmige Zug um seine Mundwinkel und die versteckte Spur von Wachsamkeit ergänzten die Aura von Kälte, die diesen hartgesottenen Typen umgab. Und trotzdem fühlte sie sich mehr als nur wohl in seiner Gegenwart. Tatsächlich fühlte sie sich sogar sicher. Geborgen. Beschützt.
Eine erschreckende Einsicht, zu der Rüya gelangt war, und die sie erschütterte. In all den Jahren, die sie sich jetzt schon alleine durch das Leben biss, hatte sie dieses Gefühl zu spüren bekommen. Noch nie. Nicht ein einziges Mal. Kälte, Furcht und der immerwährende Anflug von paranoider Angst. Immer auf der Hut, jedem Menschen mit Misstrauen statt Vertrauen begegnend. Wann hatte sich das geändert? Wichtiger noch: Was war an Azad so besonders, dass sie überhaupt so fühlte?
Fast hätte sie vergessen, wie es sich anfühlte, endlich einmal loslassen und entspannen zu können. Sich in Sicherheit zu wiegen. Wie es sich anfühlte, wenn die Erleichterung wie der Saft einer süßen Frucht war. Sie explodierte in ihrem Innern. »Ich habe Schreie gehört«, fing sie an zu berichten.  »Nichts besonderes für diese Gegend. Passiert immer wieder. Trotzdem habe ich aus dem Fenster geschaut, weil ich direkt davor stand in der Küche. Ein Betrunkener hat die Frau von gegenüber festgehalten, egal wie sehr sie sich gegen seinen Griff gewehrt hat. Dann hat er sie an die Hauswand gepresst und...u-und angefangen sie zu begrapschen. Vielleicht war es dumm runterzurennen, aber ich konnte nicht zusehen...wie-wie er ihr etwas antun würde. Also bin ich runter und habe versucht mit ihm zu reden, aber er war so betrunken...« Kurz verstummte sie, schaute mit großen Augen zu Azad. Er hatte sie bis jetzt nicht unterbrochen, machte sich jedoch Notizen. Nickend bedeutete er ihr, weiterzureden. »Er ist viel stärker und größer als ich, dazu noch unberechenbar. Ich habe nach seinem Arm gegriffen, versucht ihn wegzuzerren. Daraufhin hat er sich mächtig darüber aufgeregt und hat angefangen mich zu beleidigen. Als er den Arm gehoben hat, um mich zu schlagen, hat die andere plötzlich mit einer leeren Flasche auf seinen Kopf geschlagen. Er ist sofort umgefallen. Dann kamen die Leute aus ihren Häusern und kurz darauf ihr.« Trotzig schluckte sie den Kloß in ihrem Hals hinunter. Sie würde nicht wieder weinen. Vor allem nicht vor Azad. »Okay«, sagte er, »wenn das alles war, dann sind wir hier auch schon fertig. Louise Carter hat sich gegen eine Anzeige entschieden. So weit sollte alles klar gehen.«
Von hinten nährte sich sein Partner. »Fertig?«, fragte er Azad. Dieser nickte ihm zu. Sein Blick wanderte zu Rüya. Er musterte sie neugierig, ehe er schief grinste und machte den Mund auf, um etwas zu sagen, doch als hätte Azad genau damit gerechnet, schlug er ihm mit dem Arm gegen die Brust. Schmerzvoll verzog er das Gesicht zu einer langgezogenen Maske und rieb sich über die Stelle. »Au, Mann! Womit habe ich das jetzt verdient?«
»Das weißt du genau«, war Azads knurrige Antwort.
»Du bist gemein«, beschwerte sich der Polizist. »Und ein miserabler Partner. Da rette ich dir schon was weiß ich wie oft den Arsch und werde geschlagen. Weißt du, es gibt da so Antiaggressions Kurse. Gewalt ist keine Lösung, Azad.«
»Gewalt ist eine Lösung. Das erfährst du spätestens dann, wenn ich gleich meine Pistole zücke und auf dich schieße, du Wichser.«
»Du liebst mich, das würdest du nicht wagen!«, rief der Sunnyboy arrogant. »Außerdem schuldest du mir was. Wegen dir habe ich gerade Überstunden gemacht.«
»Arbeiten schadet deinem Hirn nicht. Wahrscheinlich würdest du jetzt betrunken irgendein Mädchen aufreißen«, provozierte Azad.
»Du schuldest mir definitiv was, Kaya, halte dich also schon mal bereit!« Schadenfreudig war bloß ein Ausdruck für den Blick, den Azads Partner ihm zuwarf. »Wenn du hier also fertig bist mit deinem netten Plausch, darfst du gerne deinen hübschen Hintern in den Wagen befördern. Ich habe genug für heute.« Er zwinkerte Rüya verschmitzt zu, ehe er sich lässig umdrehte und auf das Auto zulief.
»Tja, du hast den Möchtegern-Boss gehört«, meinte Azad amüsiert zu Rüya. Dann wurde er wieder ernst. »Geh nach oben, schließ die Tür ordentlich ab und leg dich schlafen. Nimm dir morgen vielleicht frei. Falls was ist, wirst du demnächst wieder netten Besuch von uns kriegen.« Azad machte einen Schritt nach hinten. Er schien Zeit zu schinden, bis sein ungeduldiger Partner nach ihm rief. »Kaya, beweg dich endlich, du fauler Sack, oder ich fahre!«
Als hätte man einen Schalter umgedreht, geriet Bewegung in Azads Körper. »Finger weg, Adams. Rühr mein Baby auch nur mit einem Finger falsch an und ich lege dich um!«
Er nickte Rüya zum Abschied, ehe er sich hastig entfernte. Rüya, aufgewühlt durch die Erlebnisse und amüsiert durch das Geplänkel der beiden Polizisten, ging in ihre Wohnung. Obwohl sie das Geschirr noch nicht fertig gespült hatte, lies sie es stehen und legte sich augenblicklich ins Bett. Es dauerte zwar einige Zeit, ehe sie wirklich einschlafen konnte. In dieser Nacht schlief sie sehr unruhig und wachte mehrere Male wegen schlechten Träumen auf.

 In dieser Nacht schlief sie sehr unruhig und wachte mehrere Male wegen schlechten Träumen auf

Hoppla! Dieses Bild entspricht nicht unseren inhaltlichen Richtlinien. Um mit dem Veröffentlichen fortfahren zu können, entferne es bitte oder lade ein anderes Bild hoch.


Es war ein geschäftiger Tag in dem Restaurant. Samstags war immer der beliebteste Tag zum Essen gehen. Leider bedeutete das für Rüya, dass sie ständig beschäftigt war und sich kaum eine Verschnaufpause gönnen konnte. Trotz Azads Rat, sich lieber frei zu nehmen, hatte sie es nicht getan. Geld kam nicht von selbst und Gott wusste, Rüya brauchte Geld. Sie schaffte es ja gerade so mit Mühe und Not, sich über Wasser zu halten. Wenn sie irgendwann auch nur die geringste Chance haben wollte, ihre Schwester zu sich zu holen, musste sie arbeiten und eine Lebensbasis schaffen.
Es war grauenhaft. Den ganzen Tag über war sie angespannt und müde, erschöpft und ausgelaugt. Die Bilder der letzten Nacht spielten sich in jeder freien Minute vor ihren Augen ab. Gnadenlos. Als würde das nicht reichen. Doch wirklich erstaunlich war, dass sie trotz der Müdigkeit, einen verdammt klaren Tag hatte. Sie sah die Realität, wie sie wirklich war und gab sich keinen verzweifelten Träumereien hin. Eigentlich ein positiver Schritt, wäre da doch bloß nicht der Schrecken gewesen, der sich in ihrem Innern herausfraß. Mehr denn je wünschte sie sich heute in ihren Träumen versinken zu können. Stattdessen befand sie sich in den Klauen der Wirklichkeit. Es machte sie fertig.
Das Duncan's lag direkt in der Mitte zwischen zwei Stadtteilen. Auf der einen die düstere, gefährliche Gegend, mit ihrem Gift, den es in jeden Bewohner versprühte und ihn mit einem Virus infizierte, auf der anderen Seite die Welt derjenigen, die sich ein besseres Leben mit einer positiven Zukunft leisten konnten. Zwei Gegensätze, vereint in einem. So sahen auch die Kunden aus, die hier ständig ein und aus gingen. Es gab die schmierigen Typen, die ein Nein nicht akzeptieren konnten und alles anmachten, dass zwei Beine hatte. Dann gab es die anständigen Männer, deren Arme nicht durch und durch von Tattoos überzogen waren und die bloß etwas zu essen wollten. Natürlich gab es auch, so wie das Duncan's selbst, diejenigen, die zwischen beiden lagen. Mit Egos, so groß wie Städte.
Die schmierigen Typen waren Rüya am widrigsten. Es waren die, die man nur mäßig abweisen konnte; die meinten, sie würden ihre Hände auf ihrem Hintern platzieren dürfen, nur weil sie Kunden waren. Leider war ihr Boss ebenso einer, wie diese Männer es auch waren. Ein pummeliger, gieriger Mann, mit langen Fingern, der es nicht lassen konnte seine Angestellten mit seinen eigenen Händen abzutasten.
Es war wahrlich die Hölle in dieser Bude zu arbeiten. Leider war es nötig. Niemand wollte ein Mädchen ohne Abschluss einstellen. Ohne Ausbildung.
Seufzend machte sich Rüya auf den Weg zu einem tätowierten Mann mit kurz geschnittenen Haaren, der vorhin hereingekommen war. Schon bei seinem finsteren Anblick stellten sich ihre Nackenhaare auf. Ihr Blick wanderte über die Kunst auf seinen Armen, die sich bis zu seinem Shirt hinaufschlängelte. Er hätte glatt aus dem Knast kommen können. Unwillkürlich erschauerte sie und hoffte, dass sie niemals das Vergnügen haben würde, ihn näher kennenzulernen. Trotzdem vergaß sie nicht ihren Job, den sie zu erledigen hatte. Also zwang sie ihre Lippen zu einem - hoffentlich - höflichen Lächeln und fragte: »Was kann ich Ihnen bringen?«
Aus stählernen Augen taxierte er sie von oben bis unten. Ihre Muskeln verspannten sich, ihr Körper ging in Alarmbereitschaft; bereit, jeden Moment davonzurennen. »Einmal dich mit Sahne obendrauf, wenn's geht, Schätzchen«, grinste der Schlägertyp. Anscheinend hatte ihn gefallen, was er gesehen hatte. Wie nett.
»Ihre abgeschnittenen Eier als Vor- oder als Nachspeise?« Zuckersüß klang Rüyas Stimme. Ihr Lächeln wurde künstlicher. Sie ließ sich trotz ihrer Angst nichts bieten. Von niemandem. Sein dreckiges Grinsen wich einer gehobenen Augenbraue. »Dir zuliebe habe ich mal weggehört.«
Sie verkniff sich den bissigen Kommentar, der ihr auf der Zunge lag, weil sie wusste, welche Verheißung der aggressive Ausdruck auf seinem Gesicht war. Und weil sie wusste, dass ihr Chef sowas von kein Verständnis dafür haben würde, wenn er davon zu hören bekäme. Rüya nickte bloß anständig, wie er es wohl von ihr erwartete. Mit den Jahren hatte sie gelernt, dass Menschen von jemanden nur das sahen, was sie auch sehen wollten. Sie konnte mitspielen in diesem kleinen Spiel und ihnen einen Gefallen tun oder sie konnte sich sträuben und sich das Leben so um vieles erschweren. Sie hatte sich für das mitspielen entschieden, schon so lange davor.
Nun war sie gefangen in einem Spiel ohne Regeln; ohne Realitätsbezug.

Wandelnder TraumWo Geschichten leben. Entdecke jetzt