Sechs

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A Z A D


»Ich gehe. Du kommst klar?« Azad schaute kurz von den Unterlagen auf, die unordentlich verbreitet vor ihm lagen. »Geh ruhig«, nickte er seinem Partner Joshua zu. Dieser schnappte sich seine Tasche. Der Arbeitsbereich im Polizeirevier war fast vollständig leer. Es brannten nur noch einige Lichter, die zu den wenigen Männern gehörten, die ebenso wie Azad noch nicht von ihrer Arbeit lassen konnten.
»Bleib nicht zu lange«, meinte Joshua, der Azads Angewohnheit in der Arbeit zu versinken sehr gut kannte. Dieser verdrehte natürlich seine Augen, woraufhin sich Joshuas Lippen zu einem Grinsen formten. Bedeutungsvoll schielte er zu den vier Tassen Kaffee, die auf dem chaotischen Schreibtisch gerade so Platz fanden. Es sah aus, als sei eine Bombe eingeschlagen. Joshua wunderte sich, wie Azad bei all diesen Chaos überhaupt Unterlagen finden konnte, ganz zu schweigen davon, wie er so an ihren Fällen arbeiten konnte. Er machte den Mund auf, um einen entsprechenden Kommentar abzugeben, doch Azad, der Joshuas Absicht in seinem Gesicht lesen konnte, kam ihm zuvor. »Nein!«, drohte er mit finsterem Blick und einem Stift, den er auf seinen Partner richtete. »Wag es nicht auch nur einen Mucks dazu abzugeben, Adams!«
Wie ein Unschuldslamm blickte Joshua drein, hob seine Hände. Beleidigt schob er schmollend seine Unterlippe vor. Braune Locken fielen dem Mann ins Gesicht und verliehen ihm einen lockeren Touch, der, verbunden mit der gebräunten Haut und den verwaschenen Jeans, sein australisches Surfererbe hervorhob. »Du verdirbst mir den ganzen Spaß, Mann! Wozu hat man sonst einen Partner?«, beschwerte er sich beleidigt. »Jetzt soll ich dich nicht einmal aufziehen dürfen? Was kommt als nächstes? Willst du mir das Atmen in deiner Nähe verbieten?«
»Wenn es dich tröstet, würde ich dich abknallen, statt mich mit dem erfolglosen Versuch, mich einem Rindvieh wie dir gegenüber durchzusetzen, herumzuschlagen. Am Ende tust du doch eh, was du willst.« Weil er es nicht lassen konnte, fügte er großspurig hinzu: »Und hör auf zu schmollen. Du sieht scheiße dabei aus.«
»Hier, siehst du das?«, fragte Joshua und zeigte Azad den Mittelfinger. »Der ist für dich.«
»Und der für dich«, mischte sich eine dritte Stimme von hinten ein, gefolgt von einem Schlag gegen den Hinterkopf. Azad lachte schallend. Wieder einmal kassierte Joshua einen Schlag vom Boss, der es natürlich nicht lassen konnte, Joshua gleichzeitig zu rügen. »Wir sind in einem Revier. Hier zeigen wir keine Mittelfinger gegenüber unserer Kollegen. Muss ich Sie wieder in die Grundschule schicken, Adams, und hier überall Regeln für ein gemeinsames Miteinander aufhängen?«
»'Tschuldige, Boss«, räusperte sich Joshua, warf Azad einen gemeingefährlichen Blick zu, ehe er meinte: »Ich wurde in Versuchung geführt.«
Der Boss schaute zwar finster und streng, doch Azad und Joshua kannten ihn gut genug, um zu wissen, dass er bloß sein Pokerface aufgesetzt hatte. »Wenn Sie mir jetzt sagen wollen, Sie seien Eva und Azad Adam, dann weiß ich wirklich nicht, wie Ihnen noch zu helfen ist, Adams!«
Mit diesen Worten ließ er Joshua empört zurück. Er setzte mehrmals stotternd an »Aber, Boss...«, zu sagen, als er sich jedoch von seiner Fassungslosigkeit erholt hatte, war der Boss schon viel zu weit weg. Azad, der nicht anders konnte, als gnadenlose Schadenfreude zu verspüren, lachte belustigt über Joshuas Situation.
»Hat er...«, stammelte dieser während er seinem Boss nachsah, »hat er das gerade ernsthaft getan?«
»Du wurdest gerade vom Boss höchstpersönlich fertig gemacht, Adams«, bestätigte Azad seinem Partner. Natürlich nicht ohne gebührendem Spott und einem Grinsen.
»Halt's Maul, du Wichser.« Joshuas Knurren und sein genervtes Augenrollen sollten Azad wohl einschüchtern. Gleichzeitig verschränkte er seine kräftigen Arme vor der Brust. Das Schmollen blieb bestehen, wenn auch eher unbewusst, wie Azad vermutete. Um ihm jedoch Angst zu machen, bedurfte es weit mehr. »Du schmollst schon wieder, wie ein kleines Mädchen, Adams«, zog Azad weiterhin über Joshua her.
»Ja, das tut er«, warf Cara, eine ihrer Kolleginnen, von hinten ein. Sie kam geradewegs auf die beiden Männer zu. Ihre blonden, zu einem Zopf gebundenen Haare, wippten leicht hin und her. »Hey, Jungs, könnt ihr mir vielleicht einen Gefallen tun?«
Ohne abzuwarten, um welchen Gefallen es sich überhaupt handelte, rief Joshua vehement »Nein!« ein. Aus zusammengekniffenen Augen blickte er sie an; sein Körper abweisend von ihr gewandt. Abrupt blieb Cara stehen, funkelte ihn gleichermaßen beleidigt und böse an. »Du weißt doch gar nicht, um was es geht.«
Beide Sturköpfe blitzten sich gegenseitig an. Sie lieferten sich geradezu ein Blickduell, der Azad noch weiter amüsierte. Bedeutungsvoll sah er zwischen beiden hin und her. Wieder einmal kriegte er die Anziehungskraft zwischen den beiden mit. An einigen Tagen drückte sie sich in Freundlichkeit aus, an anderen war sie wie ein Tornado, der sich in Gezanke und Wut entlud. Unwillkürlich fragte er sich, wann beide wohl so weit über ihren Stolz gehen konnten, dass sie sie sich eingestanden. Heute war Gezanke auf dem Plan.
»Deine Gefallen sind nie einfache Gefallen!«, argumentierte sein Partner.
»Sei kein Weichei! Das stimmt gar nicht!«
»Natürlich!«
»Nein, eben nicht!«
»Ich erinnere dich nur zu gern, an den letzten Gefallen, um den du und gefragt hast«, entgegnete Joshua spöttisch.
»Da war es ganz allein eure Idiotie, die Schuld an den Komplikationen getragen hat.« Cara plädierte weiterhin für sich. Ehe der Streit noch ausartete, und bei Gott, Azad wusste nur zu gut, wie sehr er das konnte, beschloss er die Wogen zu glätten. »Was gibt's denn, Cara?«
»Nimm dir ein Beispiel an Azad«, zischte sie Joshua gehässig zu, ehe sie ihm antwortete. »Ich weiß, ihr habt schon Feierabend, aber wir haben hier noch 'ne Menge zu tun und gerade kam eine Meldung über eine handgreifliche Auseinandersetzung rein. Ein Mann soll sich an einer jungen Frau vergriffen haben. Nähe des Fabrikgeländes, in einem der Wohnblocks.«
Alles in Azad gefror. Als hätte ein Blitz eingeschlagen, war er plötzlich todernst. Eine düstere Vorahnung machte sich in ihm breit. »Welche Straße? Wer ist die Frau?«
Leicht verstört über den plötzlichen Wandel schauten ihn beide etwas verwundert und vielleicht auch misstrauisch an. Er betete innerlich, dass sich sein Verdacht nicht bestätigte. Doch als ihm Cara die Straße nannte, verstärkte er sich bloß. Wenn ihm das Schicksal einen Streich spielen wollte, war das der passende Zeitpunkt. Eilig sprang er auf, nahm seine Waffe aus der Schreibtischschublade, und fluchte ohne unterlass, während er ein neues Magazin einsetzte. »Beweg deinen Arsch, Adams«, befahl er. Joshua war schlau genug, um sich ebenfalls hastig in Bewegung zu setzten. Sie liefen an einer verdutzten Cara vorbei, die selbst noch verwirrt war, als sie schon nicht mehr zu sehen waren.

Wandelnder TraumWo Geschichten leben. Entdecke jetzt