Zwölf

2.3K 179 38
                                    

A Z A D




»Wenn du hier rausgehst, wirst du alles vergessen. Wenn du aus dieser Tür marschierst, dann wirst du mit jedem Schritt alles hinter dir lassen. Und wenn du dann aus diesem Flieger steigst, dann wirst du all deine Erinnerungen an dieses Leben vergessen haben. Hast du verstanden?«
Sie waren nicht vergessen. Die Erinnerungen waren genauso real, wie sie es gewesen waren, als er in diesem Moment dagestanden hatte.
»Wer bist du?«
»Azad Kaya.«
Ein kalter Blick. Erneut die Frage, diesmal mit mehr Druck. »Wer bist du?«
»Azad Kaya.«
»Bist du dir sicher?«, spottete der Mann in dem tadellosen Anzug und mit der unbarmherzigsten Ausstrahlung, die er jemals gesehen hatte. »Wer bist du?«
»Azad Kaya!«
»Lügst du mich an, Junge? Denkst du, du kannst mich anlügen und unbestraft bleiben?« Hassvolle Erinnerungen, die doch notwendig waren. Sie hatten ihn geformt. Er hätte sie eigentlich vergessen sollen, doch wie konnte er die Tage des Kummers und des Schmerzes bloß vergessen? »Wer bist du
»Azad Kaya.«
Zum ersten Mal der Anflug von Zufriedenheit. Erleichterung setzte in seinem Körper ein, die er bewusst nicht äußerlich zeigte. Vielleicht würde er diese Hölle doch überleben...

Die Tür wurde mit einem Klicken entriegelt, nachdem er seine Schlüsselkarte an die dafür vorgesehene Schaltfläche gehalten hatte. Er hielt sie auf, damit Rüya an ihm vorbeigehen konnte. Es war ein Gang, der weiß gestrichen war. »Da hinten ist die Umkleide für Frauen.« Mit der Hand deutete er den Gang nach links. »Allerdings brauchst du einen Schlüssel für die Schließfächer. Wenn du also etwas hast, dass ich einschließen soll, kannst du es mir geben.«
Rüya schüttelte ihren Kopf und schaute ihn aus diesen betörenden Augen heraus an. Ihre Haare hatte die unter eine Kappe gesteckt, die Azad ihr gegeben hatte. Zwar kräuselten sich einige widerstrebende Strähnen in ihrem Nacken und in der Stirn, allerdings war es eine ziemlich effektive Verkleidung gewesen. Falls man sie tatsächlich verfolgte oder es auf sie abgesehen hatte, war es am Besten, wenn sie die markanten Locken verdeckte. Es dauerte nicht lange, bis Azad seine Wertsachen weggeschlossen hatte und wieder zu ihr zurückkehrte, damit sie gemeinsam den Trainingsraum betreten konnten. Es war ein etwas düster wirkender Raum, der weit und geräumig war, und eher wie eine Lagerfläche wirkte. Was er wahrscheinlich auch ursprünglich gewesen war, ehe er von der örtlichen Polizei als Trainingsraum umgebaut worden war. Mehrere blaue Matten lagen auf dem Boden verstreut, allerlei Fitnessgeräte fanden hier ihren Platz. Man hörte das dumpfe Geräusch von Schlägen, unverkennbare Geräusche von körperlicher Anstrengung und leises Fluchen. Auf einer der Matten standen Joshua und Cara, die sich wie wild gegenseitig bekämpften. Cara landete einige gemeine Schläge und zielsichere Tritte, die allesamt Joshua nach hinten drängten. Dieser hatte eine überaus konzentrierte Mine aufgesetzt und war viel zu sehr damit beschäftigt zu parieren, als dass er die beiden Neuankömmlinge begrüßen konnte. Als Cara mit voller Wucht, aus der Azad Entschlossenheit und Wut herauslesen konnte, einen Tritt gegen Joshuas Rippen landete, fluchte dieser unterdrückt und taumelte nach hinten. Ächzend verhinderte er geradeso einen erneuten Schlag. Cara nutzte ihre Vormachtstellung effektiv, täuschte einen Angriff auf seine verletzte Seite vor und brachte ihn durch mehrere heftige Tritte zu fall. »Verdammt, Frau«, fluchte Joshua, kickte ihr die Beine unter den Füßen weg und rollte sich zur Seite, damit sie nicht auf ihn fiel. Als er versuchte, sich auf Cara zu stürzen, wehrte sie ihn mit den Knien ab. Azad seufzte. Neben ihm war Rüya erstarrt. Es schien, als würde dieser Kampf endlos weitergehen, so viel Energie herrschte zwischen beiden. »Kinder«, schritt Azad dazwischen, »ich störe euch ja nur ungern, aber...«
Joshua und Cara fielen ihm beide gleichzeitig ins Wort. Wobei Cara rief: »Hör auf zu lügen, du Arsch«, und Joshua sich ungestüm darüber beklagte, dass Cara alles andere als fair gekämpft habe. »Ich?«, rief Cara entrüstet. »Sei kein Weichei, böse Jungs kämpfen nie fair.«
Ehe die heftige Flamme zwischen beiden vollkommen außer Rand und Band geraten konnte, machte Azad wieder auf sich aufmerksam. »Könntet ihr euch jetzt endlich wieder einkriegen? Ich habe Besuch dabei.«
Als hätte er ein Schlüsselwort gesagt, drehte Cara sich zu ihm um. Sie schienen Rüya jetzt erst richtig wahrzunehmen, die sich unter den taxierenden Blicken der beiden sichtlich unwohl fühlte. Ihnen könnte unmöglich entgehen, wie sie nervös mit dem Saum des grauen Oberteils spielte. Während Joshua sie breit angrinste und sie begrüßte, hatte Cara einen kalten, stahlharten Blick aufgesetzt, mit dem sie Rüya von oben bis unten musterte. Als sie mit ihrer Musterung zu Ende war, nickte sie ihr zu, während sie ihre Flasche aufschraubte und einen Schluck nahm. Dann landete ihr kalter Blick wieder auf Azad. »Du weißt jetzt aber, dass wir wegen dir nicht wissen, wer gewonnen hat? Und dass du mir was schuldest, weil ich hier mitmache?«
»Ach was«, drängte sich Azads Partner beschützend in die Unterhaltung, »du schuldest uns tausende von Gefallen, Eisprinzessin. Benimm dich, Cara, und hör auf zu versuchen das Mädchen einzuschüchtern.«
Mit dem ›Mädchen‹ war wohl Rüya gemeint, die sich zunehmend unwohl fühlte. Sie wusste nicht, was für eine Sache das sein sollte und wusste auch nicht, was genau sie hier machen sollte, da Azad sie immer noch nicht aufgeklärt hatte. Caras Geschichtsausdruck verdüsterte sich. »Pass mal auf, Adams!« Mit dem Finger stach sie in Joshuas Brust. »Niemand hat dich hier zum Beschützer des Mädchens ausgerufen. Wenn sie es hier aushalten will, dann muss sie stark genug sein.«
Azad wusste, dass Cara diese Show nur abzog, um Rüya auf die Probe zu stellen. Sie stellte absichtlich ihre arrogante, kaltschnäuzige Seite zur Schau, um Rüyas Reaktionen auszuwerten und zu entscheiden, ob sie es wert war hier zu sein. Gerade als Azad etwas erwidern wollte, meldete sich erstaunlicherweise Rüya zu Wort. »Du willst wissen, ob ich stark genug bin? Ich weiß ja nicht, wer dich hier zu der Annahme gebracht hast, du seist dazu befugt, das zu beurteilen, aber ich würde dir dringend raten, deine Haltung nochmal zu überdenken. Du weißt gar nichts über mich, also hör auf über mich zu urteilen und komm von deinem hohen Ross herunter.«
Ihre Wangen waren überzogen von einem rötlichen Hauch, der sie für Azad gleich noch attraktiver machte. Alle drei starrten sie an, als sei ihr ein dritter Kopf gewachsen. Selbst für Azad kam es überraschend, dass sie sich so heftig zur Wehr gesetzt hatte. Unwillkürlich musste er grinsen. Sie war eine Katze mit scharfen Krallen. Nach einem Moment der Musterung reichte Cara ihr die Hand. Ihr Gesichtsausdruck war jetzt erfüllt mit stiller Anerkennung. »Cara, deine Trainerin für heute.«
Sie schaute kurz zu Azad, der immer noch grinsen musste. Misstrauisch schüttelte sie Caras Hand. Natürlich konnte sich Cara einen verschwörerischen Blick auf Azad nicht verkneifen und raunte ihm zu: »Die ist okay. Die darfst du behalten, Kaya.«

Etwas später hatte sich die Gruppe aufgeteilt. Rüya war Caras Obhut überlassen worden, während Azad in ihrer Nähe anfing mit Joshua zu trainieren. Rüya hatte immer noch Azads Kappe aufgesetzt, schien vollkommen vergessen zu haben, dass sie zum Trainieren abnehmen musste. Sie mit dieser Kappe zu sehen, erweckte einen bisher unbekannt gebliebenen Teil in ihm. Seine Brust wurde eng und besitzstolz weckte sich in ihm. Seine Kappe stand ihr ausgezeichnet. Mehr als nur ausgezeichnet. Auch wenn er es nicht besonders mochte, dass ihre Augen in dem Schatten untergingen, sah sie doch fantastisch damit aus. Gerade zeigte Cara ihr, wie sie sich in die richtige Position stellte und korrigierte allerlei an Rüyas Stellung. »Willst du noch weiter dastehen und sie anstarren, Mann, oder willst du dich endlich mal aufwärmen?« Natürlich musste es Joshua sein, der ihn aus seinen Gedanken riss. Augenverdrehend schubste er Joshua mit einem heftigen Stoß gegen die Brust. »Halt's Maul, du Affe.«
»Mistkerl.« Trotzdem konnte sich sein Partner ein schiefes Grinsen nicht verkneifen. »Du bist sowas von durch, Azad.«
»Erneut: Halt's Maul. Bist du auch schon zu dumm geworden, um das zu verstehen?«
Unermüdlich drillte Cara die arme Rüya. Sie tat Azad schon fast leid. Allerdings wusste er, dass es nur zu ihrem Besten war, wenn sie lernte, wie sie sich verteidigen konnte. Das war der einzige Grund, weshalb er nicht einschritt, als sie wieder einmal den Boden unter ihren Füßen verlor. Sie ächzte und keuchte, bis sie anfing zu husten. Alarmiert hielt Azad in seiner Übung inne, doch sie schien sich schon wieder einigermaßen erholt zu haben, denn sie stand schon wieder auf ihren zwei Füßen. Bis sie wieder husten musste, diesmal heftiger als davor. Ihr dünner Körper krümmte sich unter dem Hustenanfall, ihre wirren Haare fielen vornüber. Schwer rang sie nach Luft, stützte ihre Hände auf ihren Knien ab. Blitzschnell war Azad bei ihr, fasste nach ihr unter die Arme, um sie aufzurichten und damit sie besser Luft bekam. Beklommen starrte Cara auf das Blut, das sie anfing zu husten. »Verdammt, Rüya, wo sind deine Medikamente?«, fragte er besorgt. Sie schüttelte den Kopf, immer noch hustend. Ihr Körper war schwer und schlaff in Azads Armen. Er spürte das Zittern der Anstrengung, das sie durchlief. Angst engte sein Herz ein. Fest krallten sich ihre Hände in seine Unterarme fest. Es war nur noch Azads Kraft, die sie auf den Beinen hielt. Sein Magen drehte sich um, als er begriff, dass sie keine Luft bekam. Verzweifelt tastete er ihre Hosentaschen ab, während Cara einen Krankenwagen rief.
»Ganz ruhig, Rüya«, meinte Azad, richtete sie etwas weiter auf. »Ein- und ausatmen. Ganz ruhig.« Er machte ihr vor, wie sie zu atmen hatte. Ihr Körper lehnte an seinem, daher wusste Azad, dass sie das Heben und Senken seiner Brust genau spüren konnte. Sie schnappte hilflos nach Atem. Ihre Augen rollten nach hinten, sie war dabei das Bewusstsein zu verlieren, ehe sie wieder zu sich kam. Dann stürmten die Sanitäter herein, die Joshua gerufen hatte.

Wandelnder TraumWo Geschichten leben. Entdecke jetzt