R Ü Y A
Sie wachte unter Schmerzen auf. Unter unglaublich starken Schmerzen. Dolche stachen in ihren Kopf, während ihre Lunge von Nadeln gestochen wurde. Sie konnte ein Husten nicht unterdrücken, das jedoch so peinigend war, wie sie es noch nie erlebt hatte. Ihr ganzer schwacher Körper litt unter der Verkrampfung und Anstrengung. Die Atemnot, der Mangel an Sauerstoff wurde zu dem Grund, aus dem sie sich aufrichtete. Hilflos versuchte sie zu Atem zu kommen. Oh Allah, sie war noch nicht gestorben.
Es war erstaunlich hell, aus einem kleinen Fenster drang Licht ein. Rüya bedeckte stöhnend ihre Augen, aber auch diese Bewegung forderte zu viel von ihrem geschundenen, entkräfteten Körper. Ihre Zunge brannte vor Trockenheit, während sich ihr Magen umdrehte. »Allah'ım [Mein Gott]«, krächzte sie kraftlos, »bitte hilf uns. Rette uns.« Dann versagte ihre Stimme und ihr blieben nur noch stumme Buchstaben zur Verfügung. Buchstaben, die sich in ihre Seele einritzten, in dem Gebetsmantra zu dem sie sich formten. Ihre geschwollenen Augen konnte sie kaum offen halten. Alles in ihr schien gebrochen, genauso wie man Azad gebrochen hatte. Sie hatte immer noch vor Augen, wie man sie in ein Zimmer verfrachtet und gezwungen hatte zuzusehen. Wie die Männer sie festgehalten hatten, während sie geschrien und geschrien und geschrien hatte...
Sie hatte genau beobachten können, wie Azad auf ein Dach gestiegen war. Sie erinnerte sich auch an die widerlichen Stimmen der Männer, die ihr genau erzählten, dass ihr Mann gerade dabei war Mord zu begehen, um seine Loyalität gegenüber dem Boss sicherzustellen. Sie hatten ihr zugeflüstert, dass sie auch Schuld daran sei. Wäre sie nicht in Azads Leben getreten, wäre er jetzt nicht dazu verdammt gewesen jemanden umzubringen, um sie zu beschützen. Mit diesem Mord würde sich Azad zu einer Marionette machen lassen. Die Männer hatten gelacht. Krankhaft. »Verabschiede dich von ihm, denn du wirst ihn nie wieder sehen«, hatte ihr ein Mann ins Ohr geraunt. Selbst wenn er ihnen brachte, was sie wollten, würden sie ihn nicht weiterleben lassen. Und sie? Sie würde man ruhig stellen und dann ›wiederverwerten‹. Rüya schauderte. Ihr wurde nur noch schlechter als sie sich an die anzüglichen Blicke erinnerte und die Art, wie man ihr an den Hintern und an die Brust gefasst hatte. Es war der Ausdruck dafür gewesen, dass man sie zur Prostitution zwingen würde. Oder dass man sie vergewaltigen würde. Wahrscheinlich beides. Sie würde jetzt humorlos auflachen, wenn ein Laut aus ihrem Hals gekommen wäre.
Stöhnend drehte sich Rüya zur Seite. Ihr Herz war voller Kummer und Schmerz. Sie hatte nicht nur ihre ganze Familie verloren - gerade verlor sie auch noch die neue, die sie gefunden hatte. Azad, Selin und Tante Necmiye. Egal, was war, sie liebte diese Personen wirklich aus ganzem Herzen. Oh Gott, ihre Schwester. Wenn sie starb, würde sie ganz alleine sein. Dann hätte Selin niemanden. Wut und Kampfgeist flammten kurzerhand in ihr auf. Schluss damit Trübsal zu blasen! Sie musste endlich einen Weg finden zu entkommen und Azad helfen! Niemals konnte sie jetzt aufgeben. Azad hatte alles für sie riskiert. Alles. Wie konnte sie da weniger tun? Wo sie ihn doch liebte? Sie hatte nicht gesehen, wie er abgedrückt hatte. Vielleicht hatte er ja gar nicht wirklich geschossen. Vielleicht war irgendetwas passiert und er hatte sich diesen scheußlichen Männern nicht ausgeliefert. Die Theorie war ziemlich unwahrscheinlich, aber gerade war sie alles, was sie hatte. Also klammerte sie sich daran wie eine Ertrinkende an einen Strohhalm.
In dem Moment riss sie das Öffnen der Tür aus ihren Gedanken. Schlagartig war Rüya hellwach und mit Adrenalin vollgepumpt. Als wäre es nie anders gewesen, kam sie hastig auf die Beine ohne dabei auf ihr linkisches Taumeln und den plötzlichen Schwindelanfall zu achten. Das Licht ging unerwartet grell an und entblößte den Anzugmann mit ein paar seiner Männer. Wütend und voller Hass starrte Rüya die Männer an. »Wer kommt mich denn da besuchen?«, krächzte sie lautlos. Trotzdem klang ihre Stimme so höhnisch, wie die Aussage gemeint war und zeigte den inneren Kampfgeist, der sie befeuerte. Der Mann lächelte. »Hallo, Frau Kaya.«
»Steck dir dein ›Hallo‹ in deinen Stockarsch, du Hurensohn«, zischte sie. Leider versagte ihre Stimme fast vollständig, sodass sie fürchtete, der Mistkerl könnte sie nicht gehört haben. Sie hatte es so satt hier zu sein. So satt sich hilflos vorzukommen. Einer der Männer trat unerwartet vor und schlug ihr ins Gesicht. Hart. Es ging so blitzschnell, dass Rüya nicht mal mitbekommen hatte, wie er sich bewegt hatte. Sie lachte. Hysterisch, ungläubig und leicht verrückt, aber immer noch ein Lachen. »Was jetzt?«, ächzte sie. »Was könnt ihr denn anderes außer mit Gewalt zu antworten?«
»Bitte, Frau Kaya«, meinte der Mann und verzog sein Gesicht, »Wir wollen Ihnen nicht weh tun.«
Bei dieser dreisten Lüge musste Rüya erneut lachen. »Dann habt ihr gnadenlos versagt, denn ihr tut mir schon seit der ersten Sekunde, in der ihr in mein Leben getreten seid, weh, ihr Arschlöcher!«
»Das tut mir außerordentlich leid. Aber sie verstehen hoffentlich, dass bestimmte Situationen bestimmte Mittel erfordern.«
Fast wäre Rüyas Mund offen geblieben, so schockiert war sie über diese Frechheit. »Sie Arschloch!«, patzte sie heraus. Noch im selben Moment wollte sie sich auf ihn stürzen und ihm diese kalten Augen auskratzen, wenn nicht einer der Männer seinen Arm um sie gelegt und sie so daran gehindert hätte. »Lasst mich los! Du verlogener, nichtsnutziger, kleiner Hurensohn!« Wie traurig, dass ihre Stimme so in Mitleidenschaft gezogen wurde, denn ihre berechtigten Beleidigungen waren kaum hörbar. Es dauerte eine Weile bis sich Rüya wieder einkriegte. Hauptsächlich weil ihr Hals wirklich weh tat und man sie nicht einmal richtig hören konnte. Und weil der Griff um ihre Mitte sich so verfestigte, dass sie fast keine Luft mehr bekam und es so weh tat. Bitterböse funkelte sie den Mann, der ihr Leben so auf den Kopf stellte, an. Er lief kurz hin und her, ohne dabei jedoch ungeduldig zu werden. Vielmehr kam er Rüya wie ein Hai vor, der Blut gewittert hatte, und sie jetzt drohend umkreiste. Dann blieb er stehen und sah sie musternd von oben bis unten an. Ihr lief ein kalter Schauer den Rücken hinab. Ihre Haut juckte von dem Drang sich zu bedecken, aber dem sie nicht nachgab, aus Angst, eine Schwäche zu zeigen. »Sie sind ihrer Mutter so ähnlich, wissen Sie das?«, säuselte er schließlich. Plötzlich fing ihr Herz an zu rasen. Eisige Kälte setzte sich in ihrem Magen ab. Seine Äußerung hatte sie so unvorbereitet getroffen, dass sie zuerst nicht einmal einen Sinn daraus schließen konnte. »Sie sind nicht so eine Schönheit, wie ihre Mutter, das haben Sie wohl eher von ihrem durchschnittlichen Vater, aber Ihre Locken sind genau dieselben. Und sie haben ein gewisses Etwas, das auch Ihre Mutter hatte. Schade, dass sie sterben musste. Ich habe das wirklich betrauert.«
»W-was?«
»Und deine Schwester war so mutig. Hat bis zum letzten Atemzug um euch gekämpft. Sie war wirklich besonders. Ich erkenne diesen Kampfgeist auch in dir.«
Fassungslos schaute Rüya den Mann an und realisierte nicht, dass ihre ohnehin schon Kopf stehende Welt noch einmal durcheinandergebracht wurde. »Was zur Hölle reden Sie da?« Ihre Stimme klang ganz erstickt und hysterisch. Ihr Kopf wollte nicht verarbeiten, nicht akzeptieren, was sie gerade erfuhr. Rüya hatte immer gewusst, dass ihre Eltern ermordet worden waren, selbst als die Polizei den Brand als Zufall abgestempelt und den Fall ihrer Schwester als Selbstmord betrachtet hatte. Trotzdem hatte Rüya immer die Wahrheit gewusst. Sie tief in sich getragen. Aber bis jetzt hatte sie nie die Versicherung bekommen, dass sie tatsächlich richtig lag. Es war ein Schock, fast noch schlimmer als der Tod an sich. Ausgerechnet der Mann, vor dem sie geflohen war und der ihre Familie auf dem Gewissen hatte, hatte jetzt sie und ihren Mann in seinen Fängen.
»Dich hatten wir nie als interessant betrachtet, du schienst einfach nur naiv zu sein und nicht zu wissen, was deine Eltern trieben. Aber als du dich dann ausgerechnet mit dem Mann eingelassen hast, den wir um jeden Preis wollten, dann schien das eine zu perfekte Gelegenheit zu sein. Wie klein die Welt doch ist, meinst du nicht auch?«, fragte der Mann besonnen. Rüya wurde so schlecht. Oh Gott, könnte es noch schlimmer werden? Konnte ihr Leben noch mehr auf den Kopf gestellt werden? »Halten Sie verdammt nochmal ihren Mund, Sie Lügner!«
»Es ist hart, oder?«, provozierte er weiter. »Die Wahrheit zu erfahren. Dass ihre Eltern geholfen haben etwas zu entwickeln, das eine Gefahr für Millionen von Menschen sein kann. Ich bin der Überzeugung, dass es der Schlüssel zu einer neuen Ära ist. Dass wir schon bald eine Revolution erleben werden, wie es sie noch nie in der Geschichte gab. Leider ist Ihr Ehemann da nicht meiner Meinung. Genauso, wie es Ihre Eltern irgendwann auch nicht mehr waren. Es ist bedauerlich, aber wenn wir die Welt erneuern und Fortschritte erzielen wollen, dann müssen wir manchmal Opfer eingehen. Manchmal sind diese Opfer Menschenleben. Ich hoffe, irgendwann werden Sie uns verzeihen können und erkennen, dass ein größeres Wohl als unseres auf dem Spiel stand.«
»Sie sind krank«, presste Rüya mit hämmerndem Herzen hervor. Er schmunzelte bloß, als hätte er nichts anderes erwartet. Rüya zerrte wieder an den Armen, die sie festhielten, als sie begriff, dass er gehen würde. Nein, das durfte sie nicht zulassen! Es war ihre einzige Chance zu entkommen. »Hey!«, schrie sie sich windend. »Was habt ihr jetzt vor? Lasst ihr mich gehen? Was passiert mit Azad?«
Er lachte. So, als hätte sie einen guten Witz gerissen. Und sie hatte Angst. »Azad«, murmelte er lachend, als ließe er sich einen Witz auf der Zunge zergehen. »Wenn ich wüsste, dass Sie ihn jemals wiedersehen«, meinte er schließlich mit dem Rücken zu ihr, »würde ich sagen, dass sie ihren geliebten Azad nach der Wahrheit fragen sollten. Ihn nach all den Lügen fragen, die er Ihnen Tag für Tag aufgetischt hat. Aber da Sie das ja nicht werden und ich zugegeben die Idee amüsanter finde, dass Sie sie nie herausfinden, werde ich das nicht tun.«
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Wandelnder Traum
Mystery / Thriller»Wenn du eine Lüge lebst, wirst du sie irgendwann so sehr verinnerlichen, dass sie zu deiner Wahrheit wird.« -Rüya »Du darfst nicht in der Vergangenheit leben, sonst wird sie zu deiner Zukunft, Rüya.« -Azad Könnten sich Träume wandeln, würde deiner...