Neun

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R Ü Y A


Sie fürchtete sich. Wovor?, würden viele jetzt fragen. Sie könnte antworten. Könnte vieles aufzählen. Aber im Grunde wollte sie das nicht. Sie wollte nicht an ihre Ängste denken, die ihr Herz zum Hämmern brachten und ihre Hände ganz feucht werden ließen. Sie wollte nie daran denken. Egal wann. Anfangs hatte man ihr oft gesagt, dass darüber zu reden vieles einfacher machen würde und dass man sich seinen Ängsten stellen sollte, um sie zu überwinden. Sie hatte ihnen nie geglaubt. Es waren Lügen.
Jetzt, inmitten dem wilden Getümmel, das herrschte, glaubte sie ihnen wieder nicht. Vor Furcht war ihre Brust eng und zusammengezogen. Ihr Hals brannte vom Schreien. Sie fühlte sich beklommen und irgendwie...gefangen. Als hätte man sie mit voller Wucht gegen eine unsichtbare Barriere geschmissen, die schon immer da gewesen war, die sie aber nie zur Kenntnis genommen hatte. Ein Gefühl, das Panik verdächtig nahe kam, schlug sie mit seinem vollen Gewicht fast nieder. Nur schwer widerstand sie dem Zusammenbruch, der dicht vor der Tür stand. Vielleicht war es das Geplänkel von Azad und seinem Freund, das am Rande in ihrem Bewusstsein ankam. Vielleicht war es aber auch die Spurensicherung, der sie dabei zusah, wie sie ihre Arbeit verrichtete. Polizisten redeten mit den Angestellten aus dem Dinner. Sie redeten auch mit Rüya, nahmen ihre
Aussage auf. Azad machte ebenfalls seine Aussage. Die Polizei fragte Rüya nach Verdächtigen. Wer auf Sie hätte schießen können, sagte der Polizist. Dabei dachte er eigentlich an umbringen. Was sie getan haben konnte, dass sie jemand umbringen wollte. Sie war sich seiner vorsichtigen Formulierung bewusst, doch trug sie ihm diese nach. Er wollte sie schonen, doch schon vor langer Zeit hatte sie gelernt, dass die Wahrheit irgendwann immer zuschlagen würde. Letztendlich konnte man sie hinauszögern, aber niemals aufhalten.
»Und Sie sind sich wirklich sicher, dass Sie niemanden kennen, der es auf sie abgesehen haben könnte?«, ging der Polizist nochmal sicher. Mit einem angestrengten Atemzug schloss Rüya erschöpft ihre Augen. In Gedanken ging sie noch einmal die Liste all der Personen durch, die sie kannte. Was nicht viele waren. Als sie ihre Augen wieder schloss, stand Azad neben ihr. Er hatte die Arme vor der breiten Brust verschränkt, zwischen seinen Augenbrauen hatte sich eine steile Falte gebildet. Wenn er so guckte, sah er älter aus, als er war. Vor allem verstärkt durch den Schatten auf seinen Wangen und seinem Kinn. Seine stechend blauen Augen übten reine Hypnose aus. »Denk genau nach, Rüya«, forderte Azad sie auf. Sie merkte, dass er im Ermittler-Modus war. »Es kann jede Kleinigkeit sein, so unbedeutend sie auch erscheint. Alles mögliche.«
Es war ihr zuwider diesen Mann zu enttäuschen. Eine Hand auf den Magen gepresst, versuchte sie sich zu beruhigen. Sie wusste, dass Azad half. Warum auch immer, aber er schien ihr fast jedes Mal zu helfen, wenn sie sich begegneten. Ihr einen Gefallen zu tun. Dieses Mal hatte er ihr vermutlich das Leben gerettet. Er hatte sich selber in Gefahr gebracht, um sie zu retten. Plötzlich traten Tränen in ihre Augen und ihre Brust wurde von einem seltsamen Gefühl erfasst. So lange Zeit hatte sie gelebt ohne die kleinste Hilfe von anderen, hatte sich gestählt durch die Einsamkeit. Sie hatte niemanden an sich herangelassen. Hatte sich und ihr Herz wie ein Juwel geschützt; tat es immer noch. Statt sich mit der Realität zu befassen, hatte sie sich in ihren Kopf zurückgezogen. Sie lebte nur noch in dieser Welt, hatte die Realität verlassen, so gut es ging. Das schlimmste dabei war, dass es ihr nicht einmal bewusst war.
Azad war der erste Mensch seit langem, der ihr diese entsetzliche Last auf ihren Schultern, die zu tragen sie ermüdet hatte, etwas erleichterte. Wenn sie auswählen müsste, wer es schaffen könnte, die Panzerung um ihr Herz zu sprengen, dann würde sie auf Azad zeigen. Nein, beschloss Rüya im Stillen. Das würde sie nicht zulassen. Viel zu groß war die Gefahr, von ihm verlassen zu werden. Viel zu groß, verletzt zu werden. Vielleicht reagierte sie auch nur so vehement gegen die Hilfe anderer, weil ihr keine andere Wahl blieb, als alleine zu bleiben. Keine Menschen in ihr Leben zu lassen. Sie könnte es nicht ertragen, wenn sie von ihnen verlassen oder gar hintergangen werden würde.
Rüya schüttelte ihren Kopf. »Ich habe keine Ahnung.«
Der Beamte nahm ihre Antwort hin. »Haben Sie Verwandte, zu denen Sie für eine Weile gehen können?«
Eine Explosion.
Eine Erschütterung.
Die Zeit stand still.
Die Zeit lief rückwärts.
Von einer Sekunde in die nächste war Rüya zurückgeschleudert worden. Die Welt verblasste um sie herum. Haben Sie Verwandte, zu denen Sie für eine Weile gehen können? Diesmal fragte jemand anderes. Aber die Frage war immer dieselbe. Und die Antwort? Die Antwort blieb gleich.  »Rüya?«
»Rüya?«
»Rüya.« Sie klammerte sich an Azads Stimme, die sie rief. Wie eine Rettungsleine. Ein Rettungsring. Sie war am Ertrinken, Wasser füllte ihre Lungen, Salz schmeckte auf ihrer Zunge. Sie war am Ertrinken, aber er hielt sie fest. Sie erblasste sichtlich und brauchte einen Moment, ehe sie antwortete. »Nein.«
»Bekannte? Irgendjemanden?«
Ein Kopfschütteln. »Nein.«
Der Polizist wirkte etwas überfordert. »Das«, sagte er mit leicht gerunzelter Stirn, »macht alles natürlich schwieriger.«
Rüya, die versuchte sich nicht von der aufklaffenden Wunde in ihrem Herzen zu beeinflussen, verschränkte die Arme vor der Brust. Ihre Haut fühlte sich klamm und kalt an. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass der Regen durch ihre Kleidung gesickert war. Irgendwie benommen sah sie auf die Spitzen ihrer Haare, die matt auf ihre Schultern herabhingen. Es war nicht ihre Schuld, dass ihr Schicksal nicht rosig aussah. Es war nicht ihre Schuld, dass sie niemanden hatte.
»Komm mit mir«, schlug Azad plötzlich vor. Ihr Kopf fuhr ruckartig hoch. Komm mit mir. So simple Wörter. Sie geisterten in ihrem Kopf herum. Komm mit mir. Seine schwarzen Haare kräuselten sich leicht vor Feuchtigkeit. Der Ausdruck auf seinem kantigen Gesicht war ernst und leicht nachdenklich. Komm mit mir.
Ihr Herz klopfte erstaunlicherweise wie in einem schnellen Galopp. Wann hatte es angefangen, so schnell zu schlagen?
»Ich würde dich zu Necmiye Teyze bringen«, erklärte Azad. »Ich bin mir sicher, sie würde dich liebend gern als ihren Gast willkommen heißen.«
Ihre Kehle war trocken. Sie schluckte und befeuchtete dann ihre ebenfalls trockenen Lippen mit der Zungenspitze. »Bist du dir sicher?« Warum klang ihre Stimme so, als hätte sie sie eine Ewigkeit nicht benutzt? Vielleicht hatte sie das wirklich nicht getan. Es schien ihr zumindest so. Wenn sie dem Schlagen ihres Herzen lauschte, die Sekunden zählte bis zu dem nächsten Wort, das Azad sagen würde, kam es ihr wirklich so vor.
»Ja, sicher.« Seine Augen waren so intensiv. Oder war es sein Blick? Die Art, wie er sie mit seinem Blick festnagelte. An Ort und Stelle behielt. Wie er es schaffte, durch ihre Hornhaut zu stürmen als wäre diese Glas und er aus Stein. Sie zersplitterte bis sie nur noch ihn sehen konnte.
Er stahl ihre Kraft zu sehen und merkte es nicht.

 »Necmiye Teyze, wo bist du?« Azad klang aufgebracht und wütend, als er die Frage ins Telefon rief

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»Necmiye Teyze, wo bist du?« Azad klang aufgebracht und wütend, als er die Frage ins Telefon rief. Sie hatten geklingelt und gewartet. Dann erneut geklingelt und wieder gewartet. Nichts. Die Tür blieb unberührt, das Innere schweigsam und sie immer noch draußen. Rüya zog die Ärmel der zu großen Jacke über ihre Handgelenke und kuschelte sich enger in die Wärme hinein. Es war Azads Polizeiuniformjacke. Sie roch angenehm - nach ihm. Sie hielt warm. Hustend bedeckte sie ihren Mund mit der Armbeuge. Würde dieser Hustreiz je ein Ende nehmen? Rüyas Bauch zog sich zusammen, ihre Lunge presste jegliche Luft aus ihr heraus. Sekundenland musste sie den Gedanken ertragen, dass sie keine Luft bekam. Bis ihre Eingeweide sich wieder entkrampfte und Sauerstoff ihre Lunge ausfüllte. Azad sah sie an, während er ins Telefon fragte, wann seine Tante nach Hause käme. Alles okay?, schienen seine Augen zu fragen. Sie nickte leicht. Er berichtete seiner Tante von der Schießerei und teilte ihr mit, dass sie bei ihr übernachten werde. Er fragte sie nicht, wie Rüya auffiel. Als wäre es eine beschlossene Tatsache. Dem weiteren Gespräch folgte Rüya nicht mehr. Stattdessen musterte sie die Türklingel. Weiß und modern. Neu.
»Lass uns im Auto warten.« Sie hatte den Part verpasst, als er aufgelegt hatte. Da es kalt war, folge sie ihm. Etwas widerstrebend. Sie hasste es mit Männern alleine zu sein. Es gehörte sich nicht und war falsch. Der Teufel war ein listiger dritter Geselle. Was würde ihre Mutter bloß sagen, wenn sie davon erführe? Ihr Vater? Hatten sie sie nicht anständig erzogen und ihr eingetrichtert, dass es nichts Höheres gab, als Gottes Gebote? Wenn Gott verbat, sich der Unzucht zu nähern, dann hatte Rüya sich daran zu halten. Um Gottes Willen.
Sie öffnete die Tür, setzte sich in das warme Innere. Die Heizung lief nicht mehr, doch die Wärme war noch vorhanden. Azad lehnte sich an die Fahrertür und blieb draußen. Müde beobachtete Rüya den wolkenverhangenen Himmel. Es war mitten in der Nacht. Im Normalfall würde sie jetzt eigentlich in dem Firmengebäude sein und dort putzen. Dann würde sie nach Hause fahren und todmüde in ihr kaltes Bett fallen, nur um am nächsten Morgen früh aufzustehen und zu Selin zu fahren. Sie würden nicht viel Zeit miteinander haben, weil Rüya wieder zur Arbeit würde gehen müssen. Sie liebte ihre kleine Schwester. Sie liebte sie über alles auf dieser Welt. Und sie liebte es, wie Selin jedes Mal auf sie wartete, damit sie sie besuchen kam. Wahrscheinlich war Selin alles, was ihr die Motivation gab, um jeden Tag zu arbeiten. Allah hatte ihr dieses Glück geschenkt.
Sie durfte nicht zulassen, dass sie der Schütze fand. Wenn er Rüya umbrachte, was würde dann aus Selin werden?
Wenn Rüya starb, konnte sie vor Gott behaupten, dem Paradies würdig zu sein?

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