Falling Chestnut - Die Bowlingkugel auf 4 Hufen - Kapitel 5

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Nachtreiter

„Emma! Emma, wach auf! Wach auf, pst!", rief Will und schüttelte seine Schwester. Emma brummte verschlafen und drehte sich um.

„Mh, lass mich noch ein bisschen schlafen, bitte, Will!"
Doch ihr Bruder ließ nicht locker und rüttelte weiter an ihr. „Du willst doch sicherlich mal auf Wind Charge reiten, oder? Ich sehe doch, wie du ihn immer ansiehst!"
So schnell war Emma noch nie zuvor wach geworden. „Was? Wann?", rief sie und ihre Augen glitzerten vor Freude.
„Jetzt, würde ich sagen!", flüsterte Will und legte einen Finger an die Lippen. „Aber Schhh..."
„Aber Will! Was wird Papa dazu sagen? Und Mama erst, sie wird vor Sorge umkommen! Ich kann doch nicht einfach mitten in der Nacht alleine reiten gehen!"
„Sie wird es gar nicht merken und außerdem: Ich bin doch dabei!", beruhigte Will sie, „Ich weiß, dass du das Zeug zum Jockey hast, also, willst du?"
Emma überlegte kurz und zog sich die Decke wieder über die Schultern, als sie zu frieren begann, dann nickte sie und strahlte übers ganze Gesicht. In Windeseile waren beide angezogen und leise, wie Katzen hinunter geschlichen. Der Vollmond schien auf den Hof, als die beiden unter dem Kastanienbaum hindurch zum Stall rannten. Die Nacht war kühl aber nicht so kalt, dass der Atem kondensierte. Die Pferde scharrten zufrieden schnaubend im Stroh und reckten ihre Köpfe aus den Boxen, als Will und Emma kamen und zuerst Black Unity und dann Wind Charge putzten und sattelten. Der zweijährige Wind Charge war heute extrem frech und stupste Will immer mit den Nüstern an die Schulter, als der ihn nach draußen führte. Die Ohren keck aufgestellt.
„Meinst du wirklich, dass das eine gute Idee ist? Ich meine, du hast ihn doch auch erst ein oder zweimal geritten und Papa meint, er sei ziemlich wild!"
„Er horcht sehr gut und hat ein weiches Maul. Er wird dir keine Probleme machen. Zur Not bremse ich ihn mit Unity aus", meinte Will und half seiner Schwester in den Sattel. Wind Charge tänzelte herum, als Will mit Black Unity an ihm vorbeiritt.
„Er hat aber genug Ehrgeiz, um als Erster laufen zu wollen!", lachte Will und zügelte Black Unity, die sehr wohl wusste, dass das hier nicht die Rennbahn war und sie sich auch nicht beeilen musste, um Wind Charge einzuholen.
Die beiden Pferde trotteten im Schritt gemächlich nebeneinander her und schnaubten zufrieden. Will wollte zum Waldrand, wo es eine lange, ebene Strecke gab, auf der man prima einen Sprint testen konnte. Die Trainingsbahn am Haus war noch frisch und auch etwas matschig. Wenn wie in der Nacht dort trainiert hätten, dann hätte der Vater das sicherlich bemerkt und wenn nicht wegen der Lautstärke, dann wegen dem zerfetzten Rasen, der am Vortag noch nicht auf der frischen Rasenfläche gewesen war, die seit Jahresbeginn noch niemand benutzt hatte. Hinter der Waldstrecke war der Flugplatz, abgegrenzt durch einen Drahtzaun, doch für die Pferde bestand keine Gefahr. Wenn man sie nicht rechtzeitig abgebremst bekam, dann bremste sie der steile Hügel ab, der hinauf zum Flugplatz führte. Es gab also nichts zu befürchten.
„Zuerst musst du die richtige Haltung lernen!", sagte Will und machte seiner Schwester vor, wie er immer auf Black Unity saß, wenn er ins Rennen ging. Emma machte es ihm nach und schaffte es tatsächlich, die perfekte Haltung zu finden. Natürlich, sie hatte ihrem Bruder viele Jahre lang zugesehen. Sie ritten eine kleine Runde im langsamen Galopp und wurden etwas schneller, als Emma sicherer wurde.
„Lehne dein Gewicht mal mehr nach vorne, Richtung Widerrist und schau, was Wind Charge dann macht!", sagte Will. Seine Schwester befolgte seinen Rat und jubelte laut auf.
„Er wird schneller!", rief sie entzückt. Sie hielt sich wunderbar im Sattel und Will meinte, sie wäre bereit für einen ersten Ritt im Sprint.
„Traust du dich das?", fragte er sie und seine Schwester nickte freudenstrahlend. Beide begaben sich auf Startposition und ließen dann ihre Pferde angaloppieren. Black Unity schoss sofort nach vorne und übernahm die Führung. Will hörte nur, wie Wind Charge leicht zurückfiel und sein Hufschlag immer leiser wurde. Black Unity rannte. Jetzt hatte sie der Ehrgeiz gepackt, wenn sie rannte, dann rannte sie. Doch auf einmal, als Will schon fast keinen Hufschlag mehr hinter sich vernommen hatte, tauchte Wind Charge wieder auf, donnernd Galoppsprünge waren zu hören, das Schnauben eines Pferdes, das sich in den Kopf gesetzt hatte, Erster zu werden, das nicht aufhören würde zu rennen, bis es sein Ziel erreicht hatte. Will schnappte nach Luft. Das war kein gutes Zeichen, denn auch Black Unity war so ein Pferd. Will versuchte seine Stute zu zügeln, doch es brachte nichts. Wind Charge galoppierte bereits neben ihm und Black Unity rannte so schnell sie konnte. Wind Charge überholte sie! Er donnerte in Sekundenschnelle an ihr vorbei und ließ sie im Staub zurück. Er würde sie vor dem Hügel nicht abbremsen können. Will zügelte seine Stute so stark er konnte und schaffte es, sie leicht abzubremsen, doch Emma hatte da weniger Glück. Wind Charge raste weiter.
„Emma! Halt ihn zurück!", rief er seiner Schwester zu, sie schrie vor Angst und klammerte sich an der Mähne ihres Pferdes fest. Als sie den Hügel erreicht hatte, schoss Wind Charge nach oben und wollte den Hügel erklimmen. Die Zeit, die er benötigte, um sich auszurechnen, welche Geschwindigkeit er brauchte, um unversehrt hinaufzukommen nutzte Emma aus, um sich aus dem Sattel zu werfen. Sie war unversehrt, da der Hügel, das außer Kontrolle geratene Pferd doch sehr abgebremst hatte. Wind Charge erklomm den Hügel und rannte oben im Arbeitsgalopp weiter, bis er dann an den Zaun kam, der den Flugplatz umgab, dort blieb er verwirrt stehen. Erleichtert atmete Will auf und klopfte Black Unity den Hals.
„Braves Mädchen!", sagte er und legte sich erschöpft über ihren Nacken. Da hörte Will ein Geräusch, das nichts Gutes bedeutete. Auf dem Flugplatz startete ein Flugzeug und das ratternde Gestell kam immer näher. Panisch schrie Wind Charge auf und raste in Richtung Wald davon, als das große, schwarze Etwas über ihm hinweg flog.
„Mist!", schrie Will und trieb seine Stute erneut an, um Wind Charge zu verfolgen, doch der war ohne Reiter sogar noch schneller, als ohne. Wenn er nun auf seinen Zügel trat und sich ein Bein oder den Kiefer brack, war das wohl talentierteste Pferd im Stall seines Vaters als Reitpferd vollkommen untauglich! Wenn er diese Verletzung denn überlebte.
Die Schwarze Stute unter ihm schien zu wissen, worum es ging. Will sah Wind Charge noch vor sich, doch wenn er in den Wald rannte, würde er ihn sicher schnell aus den Augen verloren haben. Er wusste, dass sein Pferd bereits alles gab, was sie konnte und er wollte sie auch nicht überanstrengen, aber er musste den wild gewordenen Hengst einfach einfangen. Seine Schwester hatte er in diesem Moment völlig vergessen. Sie würde zwar alleine nach Hause finden, aber er wusste, dass die Ereignisse dieser Nacht Folgen haben würden.
Sein Herz klopfte ihn bis zum Hals, als er in den Wald ritt. Hier war es so dunkel, dass er kaum etwas sehen konnte. Nur das Aufblitzen von Wind Charges Schweif war ein Punkt, an den er sich klammern konnte. Er würde ihn verfolgen, bis Wind Charge von alleine langsamer wurde. Immer tiefer kam er in den Wald hinein, bis er auf eine Lichtung kam. Das helle Mondlicht blendete Will und als er sich einen Moment später an die Helligkeit gewöhnt hatte, war Wind Charge verschwunden.
Will hatte keine Ahnung, wo er war. Schwer atmend sah er sich um. Das schweißnasse Fell von Black Unity schimmerte Blau im fahlen Licht und sie war vollkommen erschöpft. Komplett atemlos sprang Will von ihrem Rücken und führte sie weiter. Er wusste nicht, wo er war, aber er orientierte sich am Mond, der immer vor ihm sein musste, wenn er von dem Waldstück zurück nach Hause wollte. Nach endlos scheinenden Minuten, kam er erschöpft am Waldrand an. Er fror und er zitterte am ganzen Leib.
Als er aufsah, traute er seinen Augen nicht. Er war direkt am Hof seiner Familie. Wenn er Glück hatte, war auch Wind Charge dort. Er führte Black Unity über den Hof und da hörte er ihn auch schon. Sein Vater stand auf dem Hof und hielt das junge Pferd am Zügel. In seinem Gesicht konnte man sehr gut lesen, wie zornig er war.
„Papa, ich kann das erklären, ich..."
„Was hast du dir dabei gedacht?! Dieses Pferd ist viel zu wild und unberechenbar, um ihn ohne Aufsicht laufen zu lassen! Und wo ist Emma?!"
Will schluckte und ihm stockte der Atem.
„Hier bin ich, Vater!", rief Emma, die gerade angerannt kam. Mit vollkommen verschmutztem Gesicht sah sie weinerlich zu ihrem Vater auf.
„Mir ist nichts passiert! Ich konnte rechtzeitig von ihm abspringen..."
„Du hast ihn geritten?!?", schrie Richard Sanders und sah noch viel zornentbrannter zu seinem Sohn hinüber, „Du hast deine Schwester auf Wind Charge reiten lassen?!"
„Aber du hast doch selbst gesagt, dass sie..."
„Ja, ich habe gesagt, dass sie ihn einmal reiten darf, aber unter meiner Aufsicht! Du bist ein viel zu unerfahrener Reiter, um diese Verantwortung auf dich nehmen zu können!"
Will senkte den Kopf, weil er wusste, dass sein Vater recht hatte. Er schämte sich zutiefst wegen dem, was in dieser Nacht passiert war und er schwor sich, dass er nie wieder einen nächtlichen Ausflug machen würde.
„Ich bin sehr enttäuscht von dir! Deine Schwester kann mit solchen Pferden nicht umgehen. Sie hätte tot sein können, so wie Wind Charge hier angekommen ist, war er ja vollkommen verstört!"
„Nein, Papa! Das stimmt nicht! Ich kann mindestens genauso gut mit den Pferden umgehen, wie Will auch! Ihr lasst es mich nur nie zeigen, weil ich immer das süße, brave Mädchen sein soll, das auf seine Eltern hört! Aber dass ich auch vom Rennreiten träume, das interessiert euch gar nicht, weil ich mich ja verletzen könnte! Dieses Risiko ist immer gegeben, auch bei Will!"
Richard Sanders sah noch immer wütend aus, doch was Emma gesagt hatte, hatte etwas in ihm bewegt. Das spürte Will.
„Geht jetzt ins Bett! Ich werde die Pferde versorgen. Und du, Will, du kannst dir das Rennen auf Wind Charge nächste Woche abschminken! Ich werde mir einen anderen Jockey suchen, der an deiner Stell einspringt!"
Wütend und mit Tränen in den Augen stürmte Will hinauf in sein Zimmer und verbarrikadierte seine Tür. Dass er jetzt nicht auf das Rennen gehen durfte, hatte er natürlich verdient, das sah er ein. Aber er hatte sich so sehr darauf gefreut, dass die Wut auf seinen Vater jetzt das schlechte Gewissen überdeckte. Wütend warf er sich aufs Bett und zog die Decke über den Kopf, als es klopfte.
„Lass mich in Ruhe!", rief er voll traurigem Zorn.
„Will? Kann ich bei dir schlafen?", fragte Emma kläglich. Will öffnete die Tür, weil er sie für seinen Vater gehalten hatte. Zaghaft schlüpfte sie durch den Türspalt und vergrub ihr Gesicht in Wills Kissen.
„Es tut mir so leid, dass du wegen mir jetzt nicht aufs Rennen darfst!", heulte sie. Will setzte sich neben sie auf die Bettkante.
„Ist schon gut, es ist meine Schuld. Ich hätte das nicht tun dürfen", beruhigte er sie und strich ihr über den Rücken.
„Die hier ist für dich!", schniefte Emma und streckte will ihre Faust hin. Als sie sie öffnete, fiel eine kleine Kastanie heraus, die zwar schon schrumpelig war, aber sie hatte immer noch ihren rötlichen Stich.
„Chestnuts Kastanie", sagte ich verblüfft, „Wo hast du die denn her?"
„Ich hab sie aus dem Müll geholt, als Mama sie weggeworfen hat. Ich denke mal, sie gehört dir und Chestnut. Auf dass ihr mehr Glück miteinander haben werdet, als Wind Charge und ich."
Will war so gerührt von seiner Schwester, dass ihm die Tränen kamen und er sie umarmte. Nebeneinander schiefen die beiden noch die restlichen Stunden, bis der Tag anbrach und sie sich um die Pferde kümmern mussten.

Die Unvollendeten Geschichten der Sammy BraveWo Geschichten leben. Entdecke jetzt