Falling Chestnut - Die Bowlingkugel auf 4 Hufen -Kapitel 1

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Das Wunder geschieht

Es war tiefe Nacht. Die Eichen, die den Eichenhof umgaben bewegten sich gleichmäßig im stürmenden Herbstwind. Selbst in dieser düsteren Jahreszeit wirkten der mächtige Stall aus roten Ziegelsteinen und das Wohngebäude direkt gegenüber ziemlich beeindruckend auf den Betrachter. Das lag wohl an der Größe, denn der Gesamte Hof hatte mehr als einen Quadratkilometer Standplatz zur Verfügung, die er auch reichlich nutzte. Vom Innenhof konnte man auf die Zielgerade einer Trainingsrennbahn blicken. In der Mitte dieses Innenhofes stand eine alte, knorrige Kastanie, die gerade ihre Früchte austrug. Die kleinen braun glänzenden Kugeln waren überall auf dem Hof verstreut. Sie glänzten wie kleine Sterne im Mondlicht. Die hässlichen, stacheligen Schalen lagen darum herum und sahen dabei aus wie winzige Igel, die sich im Mondlicht trollten. Die Zeit schien still zu stehen. Nur ab und zu warf der Wind die eine oder andere braune Frucht zu Boden und es gab ein leises Klackern, das von einem kullernden Geräusch beendet wurde, als die Kastanie aus ihrer Hülle sprang. In dieser Nachtmelodie des Eichenhofes war Will Sanders aufgewachsen. Ein strammer Bursche von fünfzehn Jahren. Braunes Haar, grüne Augen. Kräftig gebaut für sein Alter, jedoch nicht dick, sondern gertenschlank. Ganze zweiundfünfzig Kilogramm wog der einen Meter sechzig große Junge, der ziemlich schüchtern war. In der Schule, sowie zu Hause, doch saß er erst auf einem Pferd, war er nicht wiederzuerkennen. Wenn er mit vollem Tempo mit einem der Rennpferde des Eichenhofs die Trainingsstrecke entlangfegte. Auf seiner schwarzen Stute „Black Unity" hatte er zahlreiche Derbys und Sprintrennen gewonnen und nach einigen Jahren hatte sich daraus eine mächtige Trophäensammlung ergeben. Nun war seine Stute trächtig und würde wahrscheinlich in dieser Nacht fohlen. Black Unity hatte sich am Vortag schon ziemlich unruhig verhalten, was ein Zeichen darauf sein könnte, dass es bald so weit war. Der Vater des Fohlens Midnight Rain – ebenfalls ein Rapppferd war ebenfalls sehr bekannt. Midnight Rain konnte ein Anteil am Blute eines der wohl berühmtesten Rennpferde aller Zeiten, Eclipse, einem wahrhaftem Wunderpferd nachgewiesen werden. Mehr als zwanzig Weltrekorde hatte er in kürzester Zeit hintereinander erzielt und wurde dann nur noch zur Zucht eingesetzt, weil kein Jockey mehr gegen ihn antreten wollte und auch kein Mensch mehr auf ein anderes Pferd gesetzt hätte, wenn es ums Wetten ging. So wurde die unheimliche Stille mit der tippenden Melodie der Kastanien fortgesetzt. Da schlich auf einmal ein Schatten über den Hof. Will. Er hatte die ganze Nacht nicht schlafen können, weil ihn die Geburt des Fohlens sehr in Aufruhr versetzt hatte. Normalerweise war das nie so bei ihm, doch heute ging es um seine Stute und ihr erstes Fohlen. Er grübelte darüber nach, welche Farbe es wohl haben würde – schwarz natürlich, wie seine beiden Eltern. Hoffentlich hat es die schöne Schnippe von seiner Mutter geerbt, dachte Will bei sich und stellte sich das prächtigste Fohlen aller Zeiten vor, mit seiden-weichem, pechschwarzem Fell, einer Mähne, die der Nachthimmel an Schwärze nicht übertreffen konnte. Zartweichen Nüstern und was noch viel wichtiger war, feurigem Charakter und gewaltiger Geschwindigkeit. Das Fohlen würde er selbst zureiten und trainieren. Bei diesen Eltern konnte ja nur ein wahrer Champion herauskommen. Eclipse aber lebte schon lange nicht mehr, noch bevor Will geboren wurde, starb das einst so geliebte Rennpferd, das dann aber seinen verdienten Platz in der Renngeschichte gefunden hatte. Lautlos glitt seine dunkle Gestalt über den Hof, unter der Kastanie hindurch. Noch immer prasselten die braunen Früchte von dem alten Baum herunter. Mit einem Schlag traf eine Wills Kopf. Er nahm sich zusammen, um nicht laut aufzuschreien. Stattdessen grinste er nur. Das kann ja auch nur mir passieren, dachte er bei sich. Jede Kastanie, die man aus der Luft fängt, bedeutet, ein Moment, des puren Glückes... so lautete sein Motto. Demnach hatte er schon bei vielen Rennen gewinnen müssen, so viele Kastanien, wie ihm schon aus heiterem Himmel auf den Kopf gefallen waren. Will betrachtete die hässliche Schale der Frucht. Für ihn war jede Kastanie einzigartig. Er brach die stachelige Schale auf und holte die braune Kugel heraus. Ihre Maserung erinnerte an einen Holzstamm, an dessen Ringen man das Alter des Baumes ablesen konnte. Ein länglicher, weißer Streifen zog sich über die Kastanie und bezeugte, dass sie noch nicht reif war. Seufzend steckte Will die braune Frucht ein und eilte hinüber zum Stall. Mucksmäuschenstill schob er die Stalltüre zur Seite und kramte eine Taschenlampe aus seiner Westentasche. Das letzte Mal, als ein Fohlen geboren worden war, hatte er dummerweise eine Kerze benutzt, um die Pferde nicht zu erschrecken und war dann nach einiger Zeit eingeschlafen, dabei hätte er aber beinahe den Stall in Brand gesteckt. Wenn sein Vater Richard Sanders nicht sofort zur Stelle gewesen wäre und das Feuerchen mit einer Löschdecke am Ausbreiten gehindert hätte, wären wohl alle Pferde und er selbst verbrannt. Will sah nach links, dort war die Treppe zum Heuboden, wenn man einen Heuballen neben der Treppe zur Seite Schob, kam man in einen geheimen Teil des Stalles, in dem nun seit diesem Malheur die Stuten abfohlten und der gut verborgen vor irgendwelchen Störungen und Dieben lag. Zur Zeit Wills Großvaters waren nämlich schon einmal Mutterstute samt Fohlen aus dem Stall entwendet worden und hatten zwei Jahre darauf eine Großzahl an Rennen gewonnen, bevor das Verbrechen aufgeklärt worden war. Der kräftige Junge schob den Strohballen zur Seite und betrat die spärlich beleuchtete Boxengasse des Abfohlstalles. Black Unity stand da und schüttelte beunruhigt und nervös den Kopf.

Die Unvollendeten Geschichten der Sammy BraveWo Geschichten leben. Entdecke jetzt