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Das Mädchen hieß Eleyn. Und sie hatte grüne betörende Augen, tiefer als das Meer von Tibris. Prinzen und Könige versuchten, ihr Herz mit Gold und Geschenken zu gewinnen, aber keinem schenkte sie auch nur einen Blick. Selten sah sie überhaupt jemanden an, meistens hielt sie die Lider gesenkt. Viele dachten deshalb, sie sei scheu und still, aber in Wirklichkeit verstand sie es einfach gut, ihre Geheimnisse zu hüten. Sie liebte und beschützte das Verborgene, wachte über den Schlaf der Falter in ihren Kokons und über die gefleckten Eier in den Nestern von Kranichen. Eines Tages verliebte sich Tar in sie. Er war ein Drache, und zwar der hässlichste seiner Art. Ihm war klar, dass Eleyn bei seinem Anblick schreiend davonlaufen würde. Also lauerte er einem Mann auf, der so schön war, dass Frauen bei seinem Anblick in Ohnmacht fielen. Tar stahl dessen Spiegelbild und legte es an. In dieser Gestalt und mit dem Namen des Schönlings ging er zu Eleyn. Sie sah ihn an - und verliebte sich. Hand in Hand streiften sie durch die Wälder. Er brachte sie zum Lachen und sie öffnete ihr verschlossenes Herz. Nur zu küssen wagte Tar sie nicht. Der Kuss des Spiegelbildes hätte ihn nämlich verraten. Ein Spiegelbild ist kühl und farblos, es gibt nichts und entfacht nichts. Also musste er eine List finden. Tar kam nur noch in mondlosen Nächten zu Eleyn. Hier konnte er sein falsches Selbst ungesehen abstreifen, und mit jedem Kuss verliebte Eleyn sich mehr in ihn. So hätten sie glücklich leben können, hätte ihn der Schönling nicht aufgespürt. Tobend und schreiend forderte er sein Spiegelbild zurück, denn es war das Einzige auf der Welt, was er wirklich liebte. Die Leute staunten nicht schlecht, als sie zwei identische Männer sahen, die sich prügelten. Nicht einmal Eleyn konnte sie auseinanderhalten. Jeder der beiden behauptete, das Original zu sein, denn Tar wusste genau, dass die Wahrheit ihn Eleyns Liebe kosten würde. Aber Eleyn wollte Gewissheit und sagte: "Dann muss eben ein Kuss entscheiden". Jetzt saß Tar nicht nur in einer falschen Haut, sondern auch in der Klemme: Gestand er den Betrug, war er Eleyn los. Aber neben einem echten Kuss kann kein Spiegelbild bestehen. So stand er in größter Not da und musste mitansehen, wie der Schönling zu seiner Geliebten trat. An jedem anderen Tag hätte er dem Kerl dafür sofort das Herz aus dem Leib gerissen. Aber heute dachte er niedergeschlagen: "Ich werde sie ohnehin verlieren, dann kann ich genauso gut einen echten Kuss von ihr stehlen". Als Eleyn vor ihn trat, ließ er das Spiegelbild blitzschnell fallen und küsste sie ein letztes Mal mit seinem ganzen Drachenherzen. Bei seinem Anblick begannen die Leute zu schreien und in Ohnmacht zu fallen. Kinder weinten, Pferde flohen, Vögel fielen tot vom Himmel. Aber Eleyn lächelte und schlang die Arme nur fester um seinen Hals. "Rette dich, Eleyn!", kreischten die Leute. "Er ist ein hässlicher Drache!" "Ich sehe keinen Drachen", erwiderte sie. Und sie lieben einander noch heute. Sie hörte also auf ihr Herz. Vielleicht hatte Tar aber auch nur Glück, weil Eleyn nämlich blind war. Das war das Geheimnis, das sie so geschickt in ihrem gesenktem Blick verbarg. Ihre Augen sahen Tar tatsächlich nicht.
(Nina Blazon)

Das ist aus dem Buch Der Winter der schwarzen Rosen von Nina Blazon. Das Cover habe ich oben angefügt.

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