4. Kapitel

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Adeline

Das Kissen unter mir war nass und es fühlte sich klebrig und komisch an, wenn ich meine Wange darauf legte. Die Sterne, die ich durch mein Fenster sehen konnte, blitzten erfreut auf und waren wie immer unnahbar. Sie schimmerten, zeigten sich in voller Pracht und ließen meine Probleme für einen winzigen Wimpernschlag verschwinden. Und auch wenn es nur ein Moment, eine kurze Sekunde in meinem Leben, war, fühlte sich dieser Augenblick wie ein anderes Leben an. Ich fühlte mich frei, nicht bedrängt und sorglos. In diesem winzigen Moment war ich sorglos.

Es war der sechste Tag vergangen, seit ich wusste, wer − was − Ethan war. Ein Werwolf, zwischen Tier und Mensch. Eine Kreatur, von der ich gedacht hatte, sie wäre eine Lüge, ein Mythos, eine dumme Legende aus alten Sagen. Aber genau das war er nicht. Er war echt, real. Ich hatte sein Atem gespürt, er hatte einst mit mir gesprochen. Er war kein Produkt meiner Fantasie. Nein, Ethan, der Wolf, war mehr als real.

Ein Klopfen an der Tür riss mich aus meinen Gedanken. Ich wusste, dass es keine meiner Zofen war oder eine andere Bedienstete. Sie würden es noch nicht einmal in Erwägung ziehen, mich in der Nacht zu wecken. Deswegen bat ich die Person herein und wusste, dass es mein Vater war.

Leise schloss er die Tür und trat an mein Bett. So wie früher setzte er sich auf die Bettkante und strich mir einige Haarsträhnen hinter das Ohr. Diese Geste war so vertraut, so sanft, dass mir eine weitere Träne über die Wange rann. Mein Vater schnalzte leise mit der Zunge und beugte sich zu mir hinab, bevor er mich sanft auf die Schläfe küsste. Dann streichelte er mich weiter und spähte wie früher auch schon aus dem Fenster und betrachtete die hellen Sterne am Firmament. Das Bild wirkte so wie in früheren Tagen, als ich noch ein kleines Mädchen gewesen ar und mein Vater mit mir jeden Abend die Sterne beobachtet hatte, so als würden sie uns irgendwann antworten. Und früher hatte ich das tatsächlich gedacht. Ich war davon ausgegangen, dass, wenn ich mit ihnen sprechen würde, sie mir irgendwann die passende Antwort geben würden. Vater hatte mir früher immer erzählt, dass Mutter dort oben sei. Sie sei ein eigener Stern, leuchte hell, um auf sich aufmerksam zu machen. Er hatte gemeint, wenn ich mit ihr rede, fühlen wir uns beide besser. Und so hatte ich oft mit irgendeinem Stern geredet, wenn Vater schon gegangen war und ich ihm vorgetäuscht hatte zu schlafen. Und ich vermisste die Zeit. So sehr, dass ich alles dafür gegeben hätte, sie noch einmal durchleben zu können. Aber ich wusste, dass es nicht mehr so sein würde. Nie mehr.

Er seufzte und ich rang mich dazu durch, mich aufzurichten. Es tat gut sich an seiner Schulter anzulehnen, seine Wärme zu spüren, die mich so sehr an Ethan erinnerte. Ich schloss halbwegs die Augen und betrachtete einige Sterne.

»Ich weiß, Adeline, dass du das alles nicht willst. Und ich kann dich verstehen«, sagte er sanft und beruhigend. »Ich leide mit dir und es schmerzt, dich so zu sehen. Aber du weißt genauso gut wie ich, dass eine Prinzessin nicht darum herumkommt.« Er strich mir über den Kopf und meinte: »Ich liebe dich, Adeline.«

Ich schluchzte und rutschte näher an meinen Vater heran. Sein Morgenmantel roch vertraut nach Kräutern und ich fühlte mich wohl. »Ich weiß, Vater.« Ich holte tief Luft, aber mein Atem ging dennoch stockend. »Ich trauere nicht deswegen, sondern weil ich euch nicht verlassen will, Vater. Ich will dich nicht verlassen, genauso wenig wie Charles. Ich liebe euch beide so sehr und es schmerzt ... es schmerzt unheimlich, wenn ich weiß, dass daran nichts zu ändern ist und ich euch kaum noch sehen werde. Es tut einfach weh.« Ich schluchzte wieder.

Mein Vater nickte und drehte sich zu mir, sodass ich meinen Kopf an seine Brust legen konnte, die sich im Takt senkte. Ich schluchzte an seiner Schulter, weinte sein dünnes Nachthemd voll, aber es störte ich nicht. Es hatte ihn noch nie gestört. »Wir werden dich auch unheimlich vermissen, mein Schatz. Für uns ist das ebenso schwer, dich gehen zu lassen. Glaub mir, es tut mir so sehr weh. Und das alles erinnert mich an deine Mutter. Als ich sie damals gehen lassen musste, hatte ich kaum Kraft gehabt mich oben zu halten, aber du, Adeline, gabst mir diese Kraft. Genau wie Charles. Ich liebe euch beide so sehr, aber ich kann nicht anders, als euch gehen zu lassen.«

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