John 3

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Wieder sitze ich in einem der braunen Ledersessel im dritten Raum. Vor mir das Kunstwerk in blau. Der Meerhimmel oder das Himmelmeer. Oder einfach die Schönheit der Abstraktion mit einer einzigen Farbe. Gut, es gibt hellere und dunklere Blautöne und dadurch sind sie doch so verschieden, aber sie sind dennoch alles Blautöne.

Wie ein Strudel zieht mich das Gemälde magisch an. Mit meinen Augen sauge ich alles auf. Jeden Klecks und Strich. Jede Farbgebung und Anordnung. Ich schwebe und falle im gleichen Moment. Fühle mich schwer und zugleich federleicht. Ein Gefühl, welches nur Gemälde in mir auslösen können. Zumindest habe ich sonst noch nie etwas vergleichbares erlebt. Es ist ein einzigartiges Gefühl, welches ich nur zu gerne festhalten würde und doch weiß, dass es nur deswegen so unbeschreiblich schön ist, weil ich es nicht halten kann.

Minuten und Stunden sitze ich nun schon hier. Vielleicht auch Monate und Jahre. Ich weiß es nicht, denn ich habe jegliches Zeitgefühl verloren. Doch genau das ist das Fantastische daran. Ich kann gefühlte Ewigkeiten einfach nur da sitzen und Gemälde anstarren und mich in ihnen verlieren. Etwas, das Basti nie verstehen wird.

Den Rest des Raumes nehme ich nur schleierhaft wahr und auch die Geräusche sind dumpfer. Alles ist wie in Watte gepackt. Das Einzig was klar und scharf ist, ist das Kunstwerk vor mir.

Wunderschön. Einfach entspannend.

Mein Handy vibriert in meiner Hose und ich merke wie ich langsam und doch viel zu schnell aus meiner Traumwelt auftauche und in der Realität ankomme.

Meistens schalte ich meine Handy aus, wenn ich ins Museum gehe, doch aus irgendeinem Grund habe ich es heute angelassen. Ich ziehe es aus meiner Hosentasche und schaue aufs Display.

Zwei neue Nachrichten von Basti blinken auf.
Vermutlich geht es um die Arbeit. Darum kann ich mich auch später kümmern, wenn ich wieder zu hause bin.
Ich stecke mein Handy zurück in die Tasche und schaue mich um.

Mein Blick wandert nach links zu einigen anderen abstrakten Gemälden in den unterschiedlichsten und zum Teil schrillsten Farben. Ich drehe meinen Kopf in die andere Richtung und erblicke einen älteren Mann, der sich mit jemandem zu unterhalten scheint. Die andere Person kann ich nicht richtig erkennen, da der Mann sie fast komplett verdeckt. Lediglich ein Stück ihrer Beine und ihre Schuhe sind zu sehen, woraus ich schließe, dass es sich um eine Frau handelt.

Eine gut gekleidete Frau.
Sie trägt eine feine schwarze Strumpfhose und blitzblanke schwarze Lackschuhe. Das sie blitzblank sind erkenne ich sogar auf die Entfernung. Sie scheint wert auf ihr Äußeres zu legen, was man von dem Mann nicht wirklich behaupten kann. Sein Hose passt farblich überhaupt nicht zu seiner Jacke und auch seine Schuhe passen überhaupt nicht dazu. Sie sind weder wirklich schick noch komplett sauber, aber dafür wahrscheinlich bequem.

Zugegeben ich achte auch nicht besonders auf mein Aussehen. Was nicht bedeutet, dass ich ungepflegt rum laufe. Meist ziehe ich einfach eine Jeans und einen schlichten Pulli an und dazu meine schwarzen Schuhe. Es ist eher ein unauffälliger Stil und genau das gefällt mir.

Unauffällig sein.
Nicht auffallen.
In der Masse verschwinden.
Einer von vielen sein.

Ich höre ein Lachen und schaue wieder zu den zwei Menschen rüber. Der Mann verabschiedet sich gerade und verlässt anschließend den Raum.

Und jetzt sehe ich sie.

Komplett.
Von Kopf bis Fuß und von Fuß bis Kopf.

Ihr Anblick haut mich um.

Ich schnappe nach Luft, doch da ist keine. Mein Mund geht auf, doch ich kann nicht atmen. Ich will den Blick von ihr lösen, doch mein Körper gehorcht mir nicht mehr.

Sie steht einfach da. Die Arme hat sie vor der Brust verschränkt und ihr Blick schweift durch den Raum. An einigen Gemälden bleibt er einen Moment länger hängen, fast so als würde sie sich gleich ebenfalls auf einen der Sessel setzen wollen und einen Moment die Kunst für sich sprechen lassen. Doch dann wandert ihr Blick weiter, so als dürfte sie es sich nicht erlauben, die Bilder zu lange anzusehen und sich in ihnen zu verlieren, so wie ich es jedes Mal tue.

Sie dreht ihren Kopf ein Stück weiter und dann passiert es.

Unsere Blicke treffen sich.

Nur einen winzigen Augenblick. Nur einen Bruchteil einer Sekunde und doch ist es, als hätte jemand die Zeit angehalten. Als würde sich alles in Slowmotion abspielen, wie in einem der Liebesfilme, die ich viel zu oft mit meiner Schwester sehen musste. Es ist nur ein klitzekleiner Moment und doch hat genau dieser Blickkontakt irgendetwas in mir verändert.

Sie hat etwas in mir verändert.

Ihr ganzes Aussehen. Ihre ganze Ausstrahlung. Ich kann nicht wegsehen und doch fühle ich mich seltsam beklemmt. Ihr Rock ist glatt gebügelt und die Bluse steckt fein säuberlich in Rocksaum. Ihre Haare sind so fest hochgesteckt, dass ihr kein einziges Haar ins Gesicht fallen kann.

Ihr ganzes Erscheinungsbild ist perfekt. Ich kann es nicht anders beschreiben, obwohl ich genau dieses Wort für immer aus meinem Wortschatz verbannen wollte.
Alles an ihr wirkt sauber, ordentlich und sortiert. So wie es eigentlich nicht sein kann, denn nichts, wirklich gar nichts, ist perfekt.

Und doch steht sie dort und ist genau das.

Ein Hauch von HerbstWo Geschichten leben. Entdecke jetzt