May 4

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Als ich mich umdrehte musste ich ein wenig hoch gucken. Vor mir stand ein hochgewachsener älterer Herr. Er lächelte mich freundlich an und ich lächelte professionell zurück. "Ich habe eine Frage zu dem Bild dort drüben", wand er sich an mich und zeigte auf eins der Gemälde. Es war eins der Bilder von Paul Klee.

Paul Klee, vergesslicher Engel, 1939

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Paul Klee, vergesslicher Engel, 1939

Das Bild passte nicht wirklich zu den anderen Bildern in dem Raum, aber da wir einen weiteren Paul Klee hier hängen hatten und keinen anderen Platz für das Bild gefunden haben, hatten wir die Bleistiftzeichnung auf Karton neben den anderen Paul Klee gehängt. "Wie kann ich ihnen helfen?", fragte ich den älteren Herren. "Nun ja. Paul Klee ist sicherlich ein großartiger Künstler und ich bewundere "Wasserpark im Herbst" von ihm. Jedoch verstehe ich diese Zeichnung nicht. Der Engel wirkt traurig und in sich gekehrt."

Paul Klee, Wasserpark im Herbst, 1926

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Paul Klee, Wasserpark im Herbst, 1926

"Die Zeichnung stammt, wie auf der Bildunterschrift zu lesen, aus dem Jahr 1939. Paul Klee verstarb kurze Zeit später an einer Krankheit mit dem Namen systemische Sklerose. Diese Krankheit hinderte ihn daran seiner Arbeit in dem Maß nachzugehen, wie es ihm beliebte. Die Hände des Engel weisen Zeichen der fortgeschrittenen systemischen Sklerose auf. Die Krankheit hat Paul Klee zu schaffen gemacht", versuchte ich dem Herren deutlich zu machen, was es mit diesem Bild auf sich hatte. "Ah okay. Deshalb auch der Unterschied zu dem anderen Bild", antwortete der Mann und seine Augen glitzerten wissbegierig. "Genau. Aber letztendlich können wir nicht sagen was genau Paul Klee wirklich im Moment der Gestaltung dieses Werkes empfunden hat. Heute liegt die Auslegung im Auge des Betrachters." Der ältere Herr lachte kurz auf: "Damit haben sie wohl recht. Vielen Dank. Ich will sie nun nicht weiter aufhalten." Mit diesen Worten drehte er sich wieder um und ging zurück um sich den Wasserpark im Herbst genauer anzusehen. Ich ließ meinen Blick durch den Raum gleiten und sah dann direkt in die Augen eines Besuchers.

Es traf mich wie ein Schlag.

Sein Blick war unergründlich, verträumt und gleichzeitig so aufmerksam und wach, wie es eigentlich nicht möglich war. In seinen Augen fand ich Ruhe. Ruhe die ich sonst nur im Malen fand. Sein ganzes Erscheinungsbild war das Gegenteil meiner selbst und doch war es vollkommen. Viel vollkommener als ich je sein könte. Er brauchte das Perfekte nicht. Er schien einfach so zu sein wie er war. In diesem Erscheinungsbild sah ich so viel Mut. Mut der mir selbst fehlte. Mut zu seinen Fehlern zu stehen und zuzugeben, dass man Fehler hat. Mut diese Fehler offen zu zeigen, während ich mich hinter einer perfekten Fassade verstecken musste...

Nur einen kurzen Moment sahen wir uns direkt an und doch hatte ich das Gefühl nackt vor ihm zu stehen. Mir kam es vor, als könnte er mein komplettes, unperfektes Ich sehen, dass ich unter der perfekten Fassade versteckte. Es war als könnte er alle meine dunklen Geheimnisse sehen. All den Schmerz, all das Chaos und die Verzweiflung die sich so oft in mir breit machte und die ich mühsam in einer dunklen Ecke meiner Seele und meines Gehirns eingesperrt hatte. Es war als würde er meine eingesperrten Gedanken mit nur einem Blick befreien. Die Gefühle strömten auf mich ein und Panik ergriff mich. Wie konnte ein völlig fremder Mensch so viel Macht über mich besitzen?

Bilder und Erinnerungen strömten auf mich ein. In mir drin herrschte das schlimmste Chaos seit Jahren. Mit schnellen, aber dennnoch präzisen Schritten begab ich mich ins Badezimmer für uns Mitarbeiter. Dort schloss ich mich zunächst ein und versuchte mein Inneres unter Kontrolle zu bringen. Mehrfach spritzte ich mir kaltes Wasser ins Gesicht. Dennoch blieb das beklemmende Gefühl in meiner Brust bestehen. Es fiel mir schwer mich zu konzentrieren. Schließlich fasste ich den einzige logischen Entschluss.

Kurz entschlossen machte ich mich auf den Weg zu meiner Chefin Nelly.

Zaghaft klopfte ich an der Tür. Auf dem Schild an der Tür stand: "Nelly Luandro. Museumsdirektorin"

Nachdem ich ein genervtes "Herein" vernahm, wäre ich am liebsten wieder gegangen, doch das erschien mir keine gute Idee. Kurz kniff ich die Augen zusammen, versuchte mich zu sammeln und betrat dann endlich das Büro. Nelly sah mich mit genervtem Blick an, jedoch veränderte sich der Ausdruck in ihren Augen, als sie mich genauer betrachtete. "Ist alles in Ordnung bei dir May?" Sachte schüttelte ich den Kopf. "Du siehst auch nicht besonders gut aus", meinte sie nun und sah mich besorgt an, "Am besten gehst du nach Hause und ruhst dich aus." "Danke", flüsterte ich und drehte mich um. "Ach ja und May", meinte Nelly und ich drehte meinen Kopf zu ihr, "Gute Besserung. Falls du was brauchst, melde dich einfach bei mir." Mit einem leichten Lächeln auf den Lippen nickte ich und verließ anschließend das Büro. Ich nahm meine Handtasche aus meine Schließfach in unserem Aufenthaltsraum und verließ schnellen Schrittes das Museum.

In kürzester Zeit legte ich die Strecke vom Museum bis zu mir nach Hause zurück. Ich schloss die Haustür auf, rannte die Treppe hinauf und stolperte fast über meine eigenen Füße. Eilig warf ich meine Klamotten über den nächst besten Stuhl und zog mir meine alten Künstlerklamotten über. Dann lief ich die Treppe wieder hinunter und öffnete die Tür zu meinem Atelier. Sofort fühlte ich mich ein kleines bisschen besser. Voller Drang zog ich eine Leinwand hervor, nahm einige der Flaschen mit Acrylfarbe und begann die Farben auf die Leinwand zu bringen.

Im Augenwinkel nahm ich wahr das James, mein Gärnter, mich mit dem gleichen besorgten Blick musterte, wie zuvor schon Nelly.

Ein Hauch von HerbstWo Geschichten leben. Entdecke jetzt