May 5

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Die mitternachtsblaue Farbe tropfte auf meine Hand. Immer mehr Farbe ließ ich auf die Hand laufen, bis meine Handinnenfläche vollständig von der Farbe bedeckt war. Dann drückte ich sie auf die Leinwand und zog sie langsam nach unten. Die Farbe quoll zwischen meinen Fingern hervor und ich genoss das Gefühl der kühlen, zähflüssigen Substanz zwischen meinen Fingern. Mit der anderen Hand öffnete ich die Klickverschlüsse anderer Farbflaschen und ließ Farbkleckse auf meine Palette tropfen. Dann griff ich danach und versenkte die zwei Fingerspitzen meiner blauen Hand im Kaminrot auf der Palette.

Kaminrot ließ ich meine Finger über die Leinwand streichen.

Grasgrüne Punkte entstanden durch leichtes tippen meiner Finger.

Kanariengelb wurde die Fläche, die ich mit meiner Handkante auf die Leinwand brachte.

Schwarze Streifen zogen sich über die Leinwand an den Stellen, an denen ich meine Fingerknöchel über die Leinwand hatte gleiten lassen.

Weitere Farben kamen dazu und die Leinwand füllte sich bis kein weißer Fleck mehr zu sehen war. Verschiedene Grün, gelb, orange, rot, blau, violett Töne mischten sich auf dem Bild. Mit meiner farbverschmierten Hand strich ich einmal über die noch feuchte Farbe und verwischte die Farben und Übergänge. Dann trat ich einen Schritt von der Leinwand zurück und betrachtete das Werk, dass ich innerhalb der letzten Stunden angefertigt hatte.

Es war ein reines durcheinander, aber es spiegelte mein Inneres wieder. Es hatte wirklich gut getan zu malen.

Als ich zum Waschbecken lief und mich im darüber befestigten Spiegel betrachtete, stellte ich fest, dass ich bunte Farbe im Gesicht und in den Haaren hatte. Der Anblick entlockte mir ein feines Lächeln. Ich hatte beim Malen gar nicht bemerkt, dass ich Farbe abbekommen hatte.

Nachdem ich alle Pinsel gesäubert hatte und selbst kurz unter die Dusche gesprungen war, begab ich mich in meinen Garten. Dort arbeitet James immer noch fleißig. Als er mich sah kam er zögerlich auf mich zu. Wir unterhielten uns nie besonders lange und auch nicht besonders oft, trotzdem war er verdammt wichtig für mich. Er war mit seiner eigenen Art immer für mich da.

"Du bist heute aber schon früh da", sagte er und stellte sich neben mich, sodass wir beide einen guten Blick auf den Garten hatten. "Ja, stimmt", gab ich ihm recht. Als Antwort nickte er nur. James war seit dem ich ihn kannte schon eher ein Mann der Taten und nicht der Worte. Einen Moment schwiegen wir. Dann rang er sich durch noch etwas zu sagen: "Ist alles in Ordnung bei dir?" Wieder herschte einen Moment stille zwischen uns und ich regte mich nicht. Dann schüttelte ich langsam den Kopf. An seinem Gesichtsausdruck sah ich, dass er gehofft hatte, eine andere Antwort von mir zu erhalten. Man sah ihm förmlich an, dass dieses Gespräch sich in eine Richtung entwickelte, mit der er nicht umgehen konnte. James schien einen Moment zu überlegen: "Komm mit. Ich mache dir einen Tee. Dann ist alles nur halb so schlimm." Das war seine Art zu zeigen, dass er für mich da war, auch wenn wir nicht darüber reden konnten. So war es schon damals als... als... Ich verbot mir selbst weiter zu denken. Innerhalb kürzester Zeit hatte ich heute mehrfach an etwas gedacht, dass ich möglichst tief in mir vergraben hatte. Normalerweise hatte ich mich mehr unter Kontrolle.

In James kleinem Häusschen, dass auch auf meinen Grundstück stand und direkt an den Geräteschuppen grenzt, setzte er eine Tasse Kamillentee für mich auf und wies mir einen Platz auf einem der ultra bequemen Sessel in seiner Sitzecke zu. Schweigend saßen wir da und schienen beide unseren Gedanken nachzuhängen. Nach einiger Zeit reichte James mir wortlos meine Tasse.

Wir saßen eine ganze Weile einfach in seinem Häusschen und ich trank meinen Tee. Als ich die Tasse leer getrunken hatte, bewegte ich mich das erste Mal wieder richtig. "Danke", flüsterte ich in James Richtung und erntete dafür ein aufrichtiges Lächeln, sowie ein Nicken. Dann verabschiedete ich mich und ging zurück ins Haus.

Es war komisch um diese Uhrzeit zu Hause zu sein. Es warf meinen ganzen Rhythmus durcheinander. Unschlüssig stand ich eine Weile da, bevor ich beschloss, dass ich auch das Haus putzen konnte.

Am späten Nachmittag klingelte es an der Haustür. Das Klingeln riss mich völlig aus dem Konzept. Niemand kam normalerweise um diese Uhrzeit vorbei. Aber heute schien ja nichts normal zu laufen.

Als ich die Tür öffnete, trate ich überrascht zurück. Vor mir stand Nelly. Sie musterte mich wieder mit diesem besorgtem Blick. "Wie geht's dir inzwischen?", fragte sie und drängte sich ungefragt an mir vorbei ins Haus. Ich konnte es nicht leiden, wenn jemand ungefragt in mein Haus kam, doch ich riss mich zusammen und ließ es zu. Sie war schließlich keine Fremde, versuchte ich mir zu sagen. "Mir geht's gut. Ich kann also morgen wieder zur Arbeit kommen", antworte ich mit einem professionellem Lächeln. Prüfend sah Nelly mich an. "Du siehst wirklich besser aus. Aber ich möchte nicht, dass du morgen schon wieder arbeitest. Ruh dich aus. Was war den überhaupt los?" "Nichts. Mir geht's wirklich gut und ich kann morgen auch wirklich wieder arbeiten. Du meintest doch eben selbst, dass ich besser aussehe", versuchte ich sie zu überzeugen. "Das kannst du vergessen. Du bist immer so beherrscht. Zeigst nie, wenn dich etwas verletzt, mitnimmt oder sonst was. Das ist jetzt schon so seit wir uns kennen und es bereitet mir sorgen. Wenn du so weiter machst wirst du irgendwann zusammenbrechen. Das will ich nicht... Und wenn du wie heute mal Gefühlsregungen zeigst, dann muss es dir wirklich schlecht gehen. Also spiel hier nicht die Heldin. Das kann und will ich nicht verantworten. Du wirst mir auch nicht umstimmen können. Du bist die ganze Woche freigestellt." "Was? Das kannst du doch nicht ernst meinen?!", rief ich empört aus. "Siehst du. Genau das meine ich. Du würdest normalerweise sachlich argumentieren und niemals laut werden. Heute ist irgendwas anders. Ich weiß, du willst es mir gerade nicht erzählen, aber du kannst immer zu mir kommen. Ich bin für dich da. Und wenn du dich gefangen hast und darüber reden kannst, dann werden wir darüber auch nochmal reden. Du bist für mich nicht nur eine Arbeitskollegin und Angestellte, sondern auch eine Freundin. Das weißt du. Also mach mir keinen Vorwurf, dass ich mir sorgen mache", hielt Nelly mir vor. "Schon gut. Ich hab es verstanden. Du hast ja recht. Danke, dass du für mich da bist", etwas beschämt sah ich zu Boden. Sie wollte schon immer nur das Beste für mich. Seit meinem ersten Tag im Museum. Ich konnte ihr keinen Vorwurf machen. Sie hatte vollkommen recht. "Okay. Gut. Ich komme die Tage nochmal vorbei und dann trinken wir zusammen einen Kaffee. Das haben wir schon lange nicht mehr gemacht. Aber dann redest du mal ein bisschen. Ich werde nicht wie sonst in irgendwelche Monologe verfallen", sagte sie und zwinkerte mir zu. Ich nickte nur ergebend. Wusste ich doch, dass ich keine andere Wahl hatte. "Gut. Ich muss jetzt auch weiter. Wir sehen uns." Mit diesen Worten verschwand Nelly auch schon wieder und ich schaffte es gerade noch ihr einen Abschied hinterher zu rufen, ehe die Tür ins Schloss fiel.

Das war ein seltsamer Tag. Ein absolut seltsamer Tag. Ich beschloss ins Bett zu gehen, damit der Tag endlich ein Ende hatte. Dabei störte es mich auch nicht, dass wir immer noch späten Nachmittag hatten.

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⏰ Letzte Aktualisierung: May 13, 2017 ⏰

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