Heimat

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Ich sprang aus dem Zug. Der Bahnsteig war hier circa einen Meter unter der Schwelle der Zugtür. Meine Tasche plumpste unsanft neben meine Hüfte und rammte sich noch mehr in meine Schulter. Zielsicher strebte ich durch die Massen zu den Treppen nach unten. Durch den Tunnel lief ich bis zum Parkplatz hinter dem Bahnhof. Beim Laufen klatschte meine Tasche immer wieder gegen meine Hüfte. Der Haken, der den Henkel mit der Tasche verband, knarrte bei jedem Schritt. Nur zwei Menschen waren auf den steinigen Fußwegen der Straße zu sehen. Ein Auto rumpelte neben mir auf dem Kopfsteinpflaster vorbei. Es blinkte und bog links an der nächsten Straße ab. Die Häuser hier verfügten über höchstens 4 Stockwerke. Sie standen dicht an dicht, das Mauerwerk alt und mit kitschigen Schnörkeleien verziert. Sie unterschieden sich einzig und allein durch ihre Farben, mal ein fades Gelb, hier ein blasses Rot und manchmal waren sie schon ganz in ein kühles Braun verfallen. Die zum Teil brüchigen Bordsteinkanten der Straße waren von Vogelbeeren gesäumt. Eines, der wenigen Geräusche neben den entfernten Autos, bestand aus meinen Schuhen, die rhythmisch auf den Steinen klackten. Auch wenn diese Stadt auf andere sehr kahl und öde wirkte, war sie meine Heimat, die ich mehr als zu schätzen wusste. An einer Kreuzung endeten die endlosen Häuser, rechts befand sich eine Bäckerei und links standen ein paar Mülltonnen, neben denen ausrangierte Möbel vermoderten. Das musste wirklich trostlos wirken, doch ich sah hier nur die schönen Dinge. Ich liebte diese unglaubliche Stille in dieser Landschaft. Weder überladene Werbeflächen, noch fünfzig Ampeln in einer Straße und kaum ein Mensch weit und breit. Die Kreuzung überquerte ich diagonal in Richtung der DDR-Garagen, die sich links befanden. Dahinter stand er, der Wohnblock, in dem mein Vater wohnte, der Wohnblock, in dem so viele Erinnerungen verborgen waren. Ich lief die Einfahrt rechts hinunter und hielt am dritten Eingang. Die alte Dame aus unserem Haus kümmerte sich gerade um die Beete, sah mich kommen und warf mir ein Lächeln zu. "Guten Tag", grüßten wir uns. "Hast du schon wieder Ferien?", fragte sie freundlich. "Ja, seit Langem mal wieder!", erklärte ich lächelnd. Die Tür stand offen und ich stieg die Treppen hoch. Sofort stieg mir der Duft dieses Treppenhauses in die Nase. Er war sicherlich nicht schön, aber für mich doch so vertraut. Kaum klingelte ich an der Wohnungstür, öffnete mir meine Halbschwester Caren. Sie grinste mich an, sprang auf mich zu und drückte mich so fest, dass mir gefühlt die Rippen zersprangen. Caren war 17 Jahre alt, im Gegensatz zu mir blond und sehr viel kleiner als ich. Da ich nicht viele Freunde hatte, geschweige denn sehr enge Freunde, war sie wie eine beste Freundin für mich. Ich konnte ihr alles anvertrauen und sie machte jeden Mist mit mir. Ein Gefühl, dass etwas fehlte, lag auf meiner Schulter, nachdem ich meine Tasche in Carens Zimmer fallen gelassen hatte. Sie hatte ein Doppelbett, weshalb sie das Zimmer in den Ferien mit mir teilte. "Hast du etwa gekocht?", staunte ich, nachdem mir der Geruch von Tomatensauce in die Nase stieg. "Extra für dich, ich dachte, das könntest du nach den Giftblättern heute echt gebrauchen!", witzelte Caren. "Warst du heute etwa noch nicht bei Wilson?", bemerkte ich. Wilson war seit einem Jahr mit Caren zusammen. Unseren Vater störte das wenig. Er tat alles, um uns glücklich zu machen. "Wo ist Papa eigentlich?", fragte ich Caren. "Arbeiten", antwortete sie, "der muss heute nachmittag noch einen Film zeigen." Wir setzten uns an den kleinen Tisch in der engen Küche und aßen Nudeln mit unheimlich leckerer Tomatensauce.

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