Heuschrecke

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Sie war nicht tot. Jedenfalls sah sie nicht tot aus. Ich blies sie an und ihre Flügel bewegten sich wie Blätter im Wind. Aber sie rührte sich nicht von sich aus. Überhaupt erinnerte sie an eine Pflanze. An einen noch grünen Lindensamen. Sie war wohl doch tot, zumindest stellte sie sich tot, vielleicht in der Hoffnung, man möge sie vergessen. In der eigenen Wohnung fürchte ich mich vor Insekten. Säße eine Heuschrecke in meinem Zimmer, ich öffnete das Fenster, schlösse die Türe und beträte das Zimmer stundenlang nicht mehr; dann, wenn es sich nicht mehr vermeiden ließe, wenn ich etwas aus meinem Zimmer bräuchte oder es Schlafenszeit wäre, löschte ich alle Lichter und gewöhnte meine Augen an die Dunkelheit, ich öffnete die Türe einen Spalt, steckte den Kopf durch die Öffnung und sähe, ob die Heuschrecke dort noch hockte, und wenn sie nicht mehr hockte, wo sie gehockt hätte, dann träte ich ins Zimmer, nur ein kleines Stück, mit gespannten Muskeln und jederzeit dazu bereit, zurück in den Gang zu zischen und die Türe hinter mir zuzuschlagen, und ich suchte das Zimmer ab, ob die Heuschrecke sich nicht nur woanders hinverpflanzt hätte und erst wenn ich sicher wäre, dass sie sich in keinem Winkel, nicht unterm Schreibtisch, nicht unterm Bett versteckte, schlösse ich hastig das Fenster, als bestünde Gefahr, die Heuschrecke könnte zurückkehren und sich wieder auf den Platz setzen, auf dem sie solange ungestört gesessen hätte und erneut das Zimmer in Beschlag nehmen.
Anders auf den Pflastersteinen, auf denen ihre zerbrechlicher Leib wie in einem Raster ruhte. Tot oder wie tot erstarrt strahlte sie eine zärtliche Ruhe aus. Ich ging mit meinem Gesicht nah an die Heuschrecke heran und atmete ihren bitteren Geruch ein. Ihre schwarzen Augenscheiben durchdrangen mich bedrohlich: Warte nur ab, noch liege ich hier, ein Samen im Wind, aber bald kommt der Sommer und du öffnest dein Fenster.
Ich richtete mich auf und hielt meinen Stiefel über das Tier. Ich wollte ihn auf den grünen Ast senken, doch etwas ließ es nicht zu. Mein Fuß verdeckte die Sicht auf die Heuschrecke und jedesmal, wenn ich sie nicht sah, hatte ich die Fantasie, sie sei schon hinter mir und ich stellte mir vor, dass sie sich rächen würde, falls ich sie verfehlte oder sich unter meiner Sohle aufbäumen und mich auf den Boden schleudern oder zu sich auf den Boden reißen und in mein vom Aufschlag blutendes Maul kriechen. Ich stellte den Fuß neben der Heuschrecke ab und murmelte eine Entschludigung. So recht konnte ich nicht an ihre Vergebung glauben. Dann preschte ich die Straße entlang. Alle paar Schritte blickte ich mir über die Schulter. Ich prüfte, ob die Heuschrecke noch dort lag. Irgendwann konnte mein Blick sie nicht mehr finden, sei es, weil ich mich schon zu weit entfernt hatte, sei es, weil die Heuschrecke nicht mehr dort lag.

Gefieder · KurzgeschichtenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt