Traumland

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– Und dann?

– Was sind zehn Jahre? Zudem: Zehn Jahre für uns. Für Sie ist es wie ein Schlaf. Wie ein tiefer Schlaf, nach dem Sie eine Weile brauchen, bis Sie wieder ganz da sind. Die Muskelatrophie verhindern wir mittlerweile fast vollständig. Stellen Sie sich einfach vor, Sie legen sich hin, wachen auf und haben einen schlechten Tag oder zwei.

– Meine Tochter. Sie wird dann neunzehn sein.

– Deshalb sind es bei Ihnen auch nur zehn Jahre. Zehn Jahre sind normalerweise genug. Meistens gibt man nur sicherheitshalber fünfundzwanzig.

– Sie wird mich nicht kennen.

– Dafür sind Sie dann frei. Sie können ein neues Leben anfangen. Sie können mit ihrer Tochter spazieren gehen, Ausflüge machen. Würden Sie sie lieber nur zu Besuchszeiten sehen? Sie wird sie respektieren. Sie als neuen Menschen betrachten. Wollen Sie das nicht?

– Ich bin kein schlechter Mensch.

– Natürlich nicht. Das ist auch ganz unerheblich. Sie bekommen ja eine zweite Chance. Haben Sie getippt?

– Irgendwie kommt es mir kindisch vor.

– Vielen hilft es. Dann können Sie, wenn Sie aufwachen, vergleichen, womit Sie recht gehabt hatten und wo Sie daneben lagen. Nach unserer Erfahrung gibt das den Rehabilitierten ein Gefühl der Kontinuität. Es hilft, die übersprungene Zeit zu mentalisieren.

– Soll es nicht ein Schnitt sein? Wie stand es in Ihrer Broschüre: ein Herausreißen.

– Das ist es auch. Aber man muss die Lücke füllen. Das heißt, man füllt sie – ob man will oder nicht. Man kann gar nicht anders. Und das Tippen hilft, eine realitätsgerechte Brücke zu schlagen. Aber es liegt natürlich ganz bei Ihnen. Sie machen das schließlich freiwillig. Ich sage Ihnen nur, welche Erfahrungen wir gemacht haben.

– Dann könnte ich noch zurücktreten?

– Sie haben sich doch entschieden. Und, wenn ich es so geradeheraus sagen darf, aus meiner Sicht haben Sie sich ganz richtig entschieden. Ich würde es so machen wie Sie.

– Aber Sie haben nicht?

– Ob ich was? Nein, dann dürfte ich auch nicht hier arbeiten.

– Ich dachte, man ist rehabilitiert.

– Natürlich. Schon. Trotzdem gibt es einige Berufe, von denen Sie ausgeschlossen sein werden. Zumindest jetzt noch. Das liegt daran, dass das alte System noch existiert. Es wäre zu umständlich, Häftlinge, bzw. Rehabilitierte, gesondert zu behandeln. Vorläufig werden Sie so behandelt werden wie ein entlassener Häftling. Obwohl man ja nicht wissen kann, was dann sein wird. Sie haben doch die Broschüre gelesen?

– Schon. Ich muss gestehen, dass ich nicht alles verstanden habe.

– Aber Sie haben unterschrieben, alles verstanden zu haben. Und ich habe den Eindruck, das Wichtigste begreifen Sie. Zehn Jahre Schlaf, statt fünfzig Jahre Gefängnis. Das ist doch ein guter Deal.

– Vielleicht wäre ich schon nach dreißig draußen.

– Mag sein. Aber, Bygones; in dieses Loch können Sie nicht mehr kriechen. Außerdem: Sie vergleichen Schlafen mit Gefängnis. Manche sagen, der Schlaf sei erholsam gewesen. Und die Chance, nicht rückfällig zu werden, verdreifacht sich. Sehen Sie, es ist doch klar. Im Gefängnis haben Sie mit den falschen Leuten Kontakt und nachher kennen Sie niemanden sonst. Der Schlaf ist unschuldig.

– Dann werde ich niemand mehr kennen. Alle werden weitergelebt haben, nur ich nicht.

– Sie werden neue Freunde kennenlernen. Ihnen wird eine Stelle vermittelt, das erste Jahr sind Sie versorgt. Machen Sie sich keine Gedanken.

– Jetzt habe ich doch Angst.

– Das ist normal. Wenn ich offen sprechen darf: Am Ende bekommen fast alle Angst. Am Ende will eigentlich niemand mehr. Ich verstehe auch nicht warum.

– Und nachher, bereuen es viele?

– Reue ist menschlich. Wir blicken zurück und fragen uns, was sein hätte können. Aber wer kann es schon wissen? Schlafen Sie jetzt. Wenn ich sage, hoffentlich sehen wir uns in zehn Jahren, dann um meinetwillen, verstehen Sie? Sie werden sicher träumen. Ich muss jeden Tag aufstehen und in die Arbeit gehen. Ein bisschen beneide ich Sie sogar. Regen Sie sich nicht auf. Tief ausatmen.

– Wenn ich mich nicht umentscheiden kann, dann will ich verlängern.

– Verlängern? Warum sollten Sie? Denken Sie an Ihre Tochter.

– Ich will wirklich neu beginnen. Lassen Sie mich hundert Jahre schlafen, zweihundert. Niemand, den ich kenne, soll mehr leben.

– So einfach geht das nicht. Das ist die Angst, die aus Ihnen spricht. Solange bekommen nur Mörder ... lassen Sie das. Was machen Sie da? Das bringt doch nichts. Sicherheitsdienst. Nicht ... bitte ...

Gefieder · KurzgeschichtenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt