Zeichen und Mahl

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Ihr war als zitterte das Reh, das sie beschlich. Aber falls das Jungtier zitterte, dann nicht wegen ihr, denn der Wind blies ihr ins Gesicht und sie rührte sich nicht. Der Himmel war von einem tiefen Blau, wie es die Alten nicht mischen konnten, die sich an die Farben der Erden und Pflanzen hielten: Distelrot, Glutrot, Eisenocker, Nussbraun, Bastgelb, Ginstergelb. Für das Nachtblau dieses Morgenhimmels fehlte ihnen das Pigment.
Sie legte den Pfeil auf den Bogen und atmete ruhig. Das Reh hob den Kopf und sah sie aus schwarzen Augen an. In einer geschmeidigen Bewegung spannte sie das biegsame Birkenholz und schickte den Pfeil auf den Weg. Er passierte Farne, Sträucher, Brombeerranken – ein Zitronenfalter wich ihm aus – und fraß sich durch das Fell, durch die Haut, durch das Fleisch ins Herz.
Das Reh stand einen Moment so da, den Pfeil in der Flanke, ein hellroter Punkt darunter und brach zusammen. Sie kam näher, beugte sich über das Tier und zog den Pfeil aus dem leblosen Leib. Der Zitronenfalter setzte sich in das schwarze Auge und seine Beine versanken im feuchten Glaskörper. Bissen sich fest wie Widerhaken im Fleisch eines Fisches.
Sie schnitt dem Reh die Kehle auf und sein warmes Blut mischte sich mit der Erde zu dunklem Kastanienbraun. Der Falter steckte immer noch in der starren Pupille. Sie vertrieb ihn nicht, sondern ließ ihn stecken. Ihr gefiel, wie er seine Beinchen in das Auge grub und die Flügel wetzte. Der Körper des Rehs war zu schwer, um ihn alleine zu tragen, also kehrte sie ins Dorf zurück.
Im Dorf berichtete sie den Anderen, wo sie das Tier erlegt hatte. Dann holte sie aus ihrer Hütte Erdpigmente, Mischschalen und eine Fackel. Sie entzündete die Fackel und stieg zur Höhle hinauf, in der die erlegten Tiere sich an den Wänden tummelten. Ihre flachen Leiber zuckten im Feuerschein. Zwischen zwei Gämsen fände das Reh Platz. Sie mischte die salzigen Erden mit ihrem Speichel, malte mit dem Zeigefinger die kohlernen Umrisse des Tiers an die Wand und färbte den Körper gelb. Gerne hätte sie die schwarzen Augen gemalt und den Zitronenfalter, aber ihre Finger waren zu dick. Sie lachte. Ihr Reh sah aus wie eine hornlose Gazelle.

Gefieder · KurzgeschichtenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt