~Nur eine Geschichte?~*

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Alles war gut.
  
Lia stiess einen leisen Seufzer aus und klappte ihr Buch zu. Sie hatte es schon wieder zu Ende gelesen. In Gedanken versunken starrte sie auf den Einband. 
   Harry Potter stand da. Sie liebte diese Reihe einfach abgöttisch. Nichts liebte sie mehr als die Geschichte um den jungen Zauberer mit der Narbe auf der Stirn. Sie hatte die Reihe bereits zum dritten mal gelesen und es war immer noch so toll, wie in der ersten Sekunde.
   Und immer noch wollte sie nicht glauben, dass das ganze erfunden sei. So ein gigantisches, geniales, magisches Universum konnte man sich doch gar nicht ausdenken! Aber trotzdem, konnte das eigentlich gar nicht funktionieren.
   Eine Idee, die auf Papier gebracht wurde. Eine Geschichte. Nicht mehr und nicht weniger.
   Doch trotzdem, sie hoffte tief in ihrem Innern immer noch, morgen, an ihrem Geburtstag, einen Brief vorzufinden. Adressiert an Lia Coldstone, versiegelt mit keinem anderen Siegel als dem Siegel von Hogwarts.
   Sie stiess einen Seufzer aus. Sie machte sich wie immer zu viele falsche Hoffnungen. Nur weil in ihrer Nähe schon selsame Dinge geschehen waren, hiess das noch lange nichts.
   Unter anderem hatte eines ihrer Shirts die Farbe gewechselt. Sie hatte es geschenkt bekommen und die Schlammgrüne Farbe gehasst. Mit der Zeit war es heller geworden, Tannengrün. So langsam, niemand hatte es gemerkt. Aber dabei war sie sich sicher gewesen, dass die Farbe mal richtig hässlich gewesen ist.
   Und Lia hatte so ein Talent, alles was sie verloren hatte, wiederzufinden. Sogar ihren Ohrstecker hatte sie wiedergefunden, und den hatte sie im See beim Schwimmen verloren. 
   Und ihre Haare waren immer genau so, wie sie es wollte, obwohl der ganze Rest ihrer Familie ein einziges Haar-chaos hatte.
   Aber das waren alles bloss Zufälle. Eigenartige Zufälle, die ihr Hoffnung auf etwas machten, das nie sein konnte. Es wäre natürlich genial, wäre sie eine Hexe, aber es war unmöglich.
   Müde knipste sie das Licht aus und liess sich nach hinten in ihre Kissen sinken. Mit den Gedanken bei Hogwarts schlief sie ein.

Am nächsten Morgen eilte Lia schon voller Vorfreude ins Wohnzimmer. Denn dort wartete ein Stapel Geschenke auf sie.
   Ihre Eltern waren bereits da und begrüssten sie strahlend: «Guten Morgen, Lia! Viel Glück zum Geburtstag!» «Jetzt ist meine Kleine schon elf Jahre alt!», grinste ihre Mutter. Lia grinste breit zurück und meinte: «Danke Mum, danke Dad!»
   So wie jedes Jahr konnte Lia ihre Geschenke bereits vor dem Frühstück öffnen. Begeistert hielt sie ihr erstes Geschenk auch schon in die Höhe.
   Ihre Mutter hatte gestrickt. Der Pullover war aus weicher, flauschiger Wolle und schwarz. Vorne auf der Brust war das Heiligtümer des Todes Zeichen drauf. 
   «Weil du Harry Potter doch so gern magst.», lachte ihre Mutter und zwinkerte ihr zu. «Danke Mum, der ist total schön!», freute sich Lia und zog ihn gleich über ihr Pijama an. Er war warm und noch flauschiger als sie gedacht hatte.
   «Hier, das ist von uns beiden.», meinte ihr Vater und hielt ihr eine längliche Schachtel hin. Neugierig öffnete sie die Schachtel und staunte nicht schlecht über die Kette, die darin lag. Das Silberkettchen war erstaunlich fein und der Anhänger war tropfenförmig, besetzt mit drei kleinen, glitzernden Steinchen.
   «Wow.», hauchte Lia. «Die ist wunderschön!» Sie sprang auf und viel ihrem Vater um den Hals. «Danke Dad!», nuschelte sie und drückte ihn fest. Dann tat sie dasselbe bei ihrer Mutter.
   Sie half ihr das Schmuckstück umzulegen, daraufhin machte sich Lia über die anderen Geschenke her. Sie freute sich über alle, aber keines war so toll, wie das ihrer Familie. Denn mittlerweile war auch ihre kleine Schwester Océane aufgestanden.
   Diese hatte ihr ein Bild hin gehalten und erklärt, dass sie sich so Hogwarts vorstelle. Lia hatte gegenüber ihrer kleinen Schwester viel über Hogwarts geschwärmt. Obwohl Océane nie einen Band in den Händen gehalten hatte, wusste sie über die Häuser, die Horkruxe, die Zaubersprüche, den Raum der Wünsche, die DA, Quidditch, den verbotenen Wald und natürlich über die Charaktere alles bescheid.
   Und Océane hatte das meiste sogar gezeichnet. Ihr Hogwarts hatte zwar grosse Ähnlichkeiten mit einem Märchenschloss, aber dennoch war es genial.
   Vier Räume waren in den Farben der Häuser ausgemalt, neben dem Schloss waren ein See und ein Wald, am Waldrand konnte man sogar Hagrids Hütte sehen. Im Untergeschoss in einen Raum mit Kesseln hinein hatte sie Snape gezeichnet. Es konnte gar niemand anderes sein, mit der Hakennase, dem Umhang und dem schwarzen Haar. In einem Turm war ein Raum, der war mit DA beschriftet. Darin standen zwei Jungen und ein Mädchen. Ein junge mit schwarzem Haar, Brille und unverkennbarer Narbe, der andere mit rotem Haar und übertrieben vielen Sommersprossen, das Mädchen mit lockig braunen Haaren, die wild vom Kopf abstanden. Sogar einen Geist konnte Lia entdecken. Und auch die grosse Halle mit der durchsichtigen Decke hatte sie gezeichnet.
   Lia musste grinsen. Sie liebte ihre kleine Schwester einfach!
   «Das ist wunderschön, danke Océane!», gratulierte sie ihrer Schwester. Diese schaute leicht verlegen und errötete.
   «Ich will auch mal nach Hogwarts, denkst du, ich bekomme einen Brief?», fragte sie leise und umarmte Lia. «Vielleicht, wer weiss.», lächelte diese und drückte zurück. Sie konnte fühlen, wie Océane glücklich in ihren neuen Pulli grinste.

Als Lia nach dem Frühstück die Post holen ging, hatte sie ihre Gedankengänge vom Vorabend schon fast wieder vergessen. Sie hatte eigentlich gar nicht mehr daran gedacht, dass sie doch eigentlich einen Hogwartsbrief wollte.
   Aber als sie die Briefe in der Hand hielt und durch schaute, viel ihr einer ins Auge, der irgendwie anders war. Und er war an sie adressiert.
   Neugierig drehte Lia ihn um und traute ihren Augen nicht. Verwirrt starrte sie das Siegel an. Dann kniff sie sich in den Arm. Doch, sie war eindeutig wach! Sie blinzelte ein paar weitere Male, aber das Siegel blieb, wo es war. Sie halluzinierte also auch nicht.
   Es dauerte etwas, bis es ihr endlich dämmerte. Sie hielt grad ihren Schulbrief in der Hand. Ihren Hogwartsbrief, den sie sich so fest gewünscht hatte!
   Sie quietschte und liess einfach alle anderen Briefe auf den Teppich fallen, dann rannte sie ins Wohnzimmer. Mit einem Freudensschrei war sie sich ihrer Mutter um den Hals, dann drückte sie ihren Vater so fest, dass er beinahe keine Luft mehr bekam. Dann rannte sie zu Océane, hob sie auf und wirbelte sie im Kreis.
   «Lia, meine Güte! Pass auf deine Schwester auf!», rief ihre Mutter erschrocken. Ihr Vater stand nur völlig verwirrt daneben und schien die Welt nicht mehr zu verstehen.
   Lia wiederum kam gar nicht mehr aus dem Strahlen heraus und wedelte mit dem Brief ihren Eltern vor der Nase herum.
   «Es existiert! Hogwarts existiert!», kreischte sie, ihre Stimme überschlug sich und sie hüpfte um den Küchentisch herum. Dann rannte sie weiter, um den Brieföffner zu holen. Auf keinen Fall wollte sie das wunderschöne Siegel zerstören!
   Mit zittrigen Fingern nahm sie die Blätter aus dem Couvert und traute sich erst gar nicht, sie aufzufalten. Océane lief ihr hinterher und nahm den Umschlag in die Hand, den Lia neben sich auf die Ablage gelegt hatte. 
   «Dein Hogwartsbrief?», fragte sie. Ungläubig, aber genau so begeistert wie Lia selbst. «Du bist eine Hexe?»
   Als Antwort nickte Lia nur, ihr fehlten einfach die Worte. Es waren doch nicht alles eigenartige Zufälle gewesen. Ihre Hoffnungen waren doch nicht unmöglich gewesen. Es existierte wirklich.
   Während sie sich ihren Brief durchlas, rollte ihr eine Freudenträne die Wange herab.

Als Lia den ersten Fuss in die Winkelgasse setzte, war sie bereits überfordert. Sie kam gar nicht mehr aus dem Staunen heraus. Sie roch Dinge, die sie noch nie gerochen hatte, sie sah Tiere, sie sah Läden, und sie sah Zauberer und Hexen. Ein Stimmengewirr lag in der Luft und mit den ganzen fremden Ausdrücken kam sie kaum zurecht.
   Sie würde am liebsten kreischen und rumhüpfen, aber das war ihr dann doch zu peinlich. Sie drehte sich aufgeregt zu ihrer Familie um, die noch überwältigter als sie war. Nur Océane hüpfte bereits ungeduldig rum, weil sie endlich alles entdecken wollte.
   Ihre Mutter starrte mit offenem Mund, die Augen ihres Vaters zuckten von einem Ort zum anderen. Lia grinste und zog ihre Einkaufsliste heraus. Sie konnte es immer noch nicht fassen, dass sie grad in der Winkelgasse stand, um ihre Hogwartseinkäufe zu machen.

Uniform:

7 Jahre Magie - AbgebrochenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt