Immer bei dir

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Es waren gerade mal zehn Minuten vergangen, seit wir im Krankenhaus angekommen waren, doch es fühlte sich für mich an wie zehn Stunden. Vermutlich, weil es auch die schwersten Minuten unseres Leben waren. Wir saßen alle im Arztzimmer, das fürchterlich nach Orangen roch. Und Ich hasste Orangen. Vor uns saß ein mittelalter dunkelharriger Mann mit Stoppelbart in einem weißen Kittel und einem Namensschild, wo stand: Herr Huber.
"Es tut mir leid, aber...Ihr Kind wird nur noch drei Monate zu leben haben. Der Krebs sollte sich bald in ihrem ganzen Körper ausgebreitet haben", gestand der Arzt bedauernd. In mir brach im Moment eine ganze Welt zusammen. Hinter mir hörte Ich meine Mutter laut aufschluchzen. "Was...?", flüsterte mein Vater mit kaum hörbarer Stimme. Ich stützte mich mit einem verwirrten Gesichtsausdruck an der Wand ab und rieb mit einer Hand meine Stirn. "Nein... Nicht Sarah... D-dass muss ein Missverständnis sein", versuchte Ich mit einer klaren und festen Stimme klarzustellen, scheiterte jedoch kläglich. "Ich denke, das Beste, was sie jetzt machen können, ist mit der kleinen Sarah so viel Zeit wie möglich zu verbringen!", schlug Herr Huber mit einer vergeblich munteren Stimme vor. Wenn man meinen Vater so sah, wusste man sofort, dass er sich extrem zusammenreißen musste, um den Arzt nicht gleich vor allen Anwesenden zu köpfen. Gerade, als Ich etwas Vernichtendes sagen wollte, kam meine Mutter mir zuvor und schrie: "Sie haben Recht! Mit der kleinen Sarah soviel Zeit wie möglich zu verbringen!!! Ich meine, es geht hier immerhin um ein kleines Kind im Alter von acht!! Sie müssen doch etwas dagegen tun können, Herr Doktor !!!" Herr Huber musste laut aufstöhnen. "Wissen sie was?", fragte er, " Ich übe diesen verdammten Beruf schon seit Jahren aus und es ist immer das Gleiche mit ihnen Eltern. Ich habe einen anderen Vorschlag: Es gibt hier in der Nähe das Kinderhospiz Balthasar. Es kümmert sich um Kinder und Jugendliche, die eine lebensbedrohliche Diagnose erhalten haben. Im Übrigen kümmert es sich auch um deren Angehörige, damit ihnen eine Last abgenommen wird." "Sie nennen meine Schwester eine Last?!", platzte es aus mir wutendbrannt heraus. " "Lina!!", zischte mein Vater. Ha, als ob es ihm anders ergehen würde! Meine kleine Schwester lag anscheinend im Sterben und Ich sollte mich nicht aufregen?? Dass Ich nicht lache! "Ich gebe ihnen die Adresse. Und glauben sie mir: Es wäre wirklich das Beste. Sarah wird dort gut aufgehoben sein.", versicherte uns der Arzt ein letztes Mal, bevor er uns mit einem kleinen Zettel, wo die Adresse draufstand, aus seinem Büro scheuchte. Das Erste, was mir in den Sinn kam: Sarah! Ich musste sie unbedingt besuchen und mich erkundigen, wie es ihr ging. In ihrem Zimmer angekommen entdeckte Ich meine Schwester, wie sie an einem Gerät angeschlossen war. Ihre Augen waren geschlossen und sie atmete in regelmäßigen Zügen, weswegen Ich ausging, dass sie noch schlief. Tja, hatte mich wohl getäuscht. Gerade, als Ich mich an einer Schüssel Pistazien zu schaffen machte, ertönte Sarah's hauchdünne Stimme: "Wo warst du, Lina?" "Beim lieben Onkel Doktor", antwortete Ich und eilte zu ihr, "Wie geht es dir, Kleines?" "Wie soll's mir schon gehen? Mein ganzer Körper tut weh und Ich will zu Mama und Papa", murrte sie und verschränkte trotzig ihre Arme vor der Brust. "Das wird schon!", versicherte Ich ihr lächelnd. Doch das war eine Lüge. Bald würde ein Teil von mir für immer verschwinden und Ich konnte nichts dagegen ausrichten.

Zwei Tage später brachten wir Sarah ins Hospiz. Die 8-Jährige sträubte sich anfangs dagegen, doch als wir vor einem riesigen Gebäude ankamen, staunten wir alle nicht schlecht. Das Haus hatte riesige Fenster, an denen samtrote Gardinen hingen. Die Wände waren abwechselnd rot und weiß. Ich musste widerwillen zugeben, dass mir gefiel, was Ich sah. Auch im Inneren sah es sehr schick und vornehm aus. Zumindest, bis Ich an einer besonderen Wand vorbeikam, an der Kinderhandabdrücke in verschiedenen Farben waren. An der Rezeption saß eine kleine, etwas pummelige Frau mit einer runden Brille. Sie machte auf mich einen recht sympatischen Eindruck. Vielleicht würde es Sarah hier wirklich besser gefallen. Naja, immerhin besser, als todeskrank im Bett zu liegen und nichts zu tun. "Willkommen!", begrüßte uns die Frau herzlich und warf einladend ihre Hände in die Höhe. "Ähh...Guten Tag.", erwiderte mein Vater mit einem nervösen Lächeln im Gesicht. Hinter ihm war meine Mutter, die aus ihrer Handtasche mehrere Papiere herauskramte. Die gab sie der Rezeptionsdame und lächelte ebenfalls vorsichtig. Die pummelige Frau las die Zettel aufmerksam, bis sie dann laut lachte: "Dann sind Sie wohl Familie Steinert! Ich freue mich, sie alle kennenzulernen" Dann stand die Frau von ihrem Drehstuhl auf, kniete sich mühevoll zu Sarah herunter, um mit ihr auf einer Augenöhe zu sein: "Du musst wohl Sarah, Mamas und Papas kleines Bienchen!" Bei diesem Kommentar kicherten meine Schwester und Ich gleichzeitig. Danach zeigte die Dame uns alles. Am fasziniertesten war Ich bei dem Tauergarten. Überall wuchsen Wildblumen und Rosen, die wild umher sprossen. Nach einer gefühlten Ewigkeit maschierten wir endlich ins neue Zimmer von Sarah. Auch das war sehr schön gestaltet: himmelblaue Wände, riesige Töpfe, die handgefertigt wurden, ein großes Bett in der Mitte. "Kommst du mich auch ganz oft besuchen?", fragte Sarah und grinste, sodass Ich eine Sicht auf ihre große Zahnlücke hatte. "Ja", antwortete Ich sanftmütig, "Immer."

Es waren nun drei Monate her, seit wir Sarah im Hospiz abgegeben hatten. Ich schrieb vor einer Woche meine Abschlussprüfung, was mich aber nicht daran hinderte, meine kleine Prinzessin zu besuchen. Jeden Tag sah Ich nach ihr und erkundigte mich nach ihrem Wohlbefinden. Manchmal übernachtete Ich auch im Hospiz. Sarah freute sich sehr. Ihr ganzes Gesicht hellte sich auf, als Ich mit ihr lustige Spiele wie 'Blinde Kuh' spielte. Doch dann bekam sie diesen traurigen und erschöpften Ausdruck in den sonst immer so funkelnden Augen, so, als ob sie kurz davor wäre, laut loszuweinen. Bei Sarah's Anblick hatte man fast das Gefühl, einem wurde das Herz herausgerissen. Und Ich erinnerte mich wieder,dass meine kleine Schwester, mein Ein und Alles, todeskrank war und heute oder morgen sterben könnte. "Lina? Wenn man stirbt, glaubst du, man geht durch eine Treppe oder eine Brücke oder ein Tor? Und glaubst du, Ich werde heute sterben?" Bei dieser Frage erstarrte Ich schlagartig. "Wie kommst du drauf...?", flüsterte Ich kaum hörbar. Sarah zuckte einmal mit den Schultern: "Ist so 'ne Vermutung." Plötzlich wurde sie von einem kräftigen Husten geschüttelt. "Ich war im Traum auf einer Blumenwiese und neben mir stand ein kleiner, blondhaariger Engel.", fuhr Sarah ohne zu zögern fort, "Es sagte, Ich solle mit ihm kommen, aber Ich habe mich geweigert. Wird der Engel jetzt böse von mir sein?" "Quatsch! Du bist das Beste, das je auf die Welt gekommen ist. Erst recht ein Engel kann dir da nicht lange böse sein!", meinte Ich mit bemüht fröhlicher Stimme. Eine peinliche Stille zog über uns, bis Sarah wieder anfing, zu sprechen: "...Aber Du bleibst doch bei mir, oder?" Sie blickte mich mit schiefgelegtem Kopf an. "Aber natürlich.", erwiderte Ich und schloss sie fest in meine Arme, "Ich bin immer bei dir..."

Ich hatte vor, dieses Kapitel vor 5 Tagen zu veröffentlichen, doch dann ist mir die Schule in den Weg gekommen. Also seid bitte nicht nachtragend oder so etwas in der Art, ja? ^~^

Blumensee

One Shots & NominierungenWhere stories live. Discover now