Glück

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Da saß Ich also. Die Schulpsychologin Fr. Ruhrstorfer beobachtete mich besorgt und reichte mir ein Taschentuch. Zu Recht. Meine Schminke war auf dem ganzen Gesicht verschmiert und meine dunkelbraunen Augen waren blutunterlaufen. Ich sah aus wie ein erbärmliches Häufchen Elend. "Bist du dir auch wirklich ganz sicher, dass wir sie zu uns holen sollen?", fragte die Psychologin mit einem mitfühlenden Blick und schob sich eine haselnussbraune Strähne hinters Ohr. Ich nickte entschlossen und schniefte lautstark in das Taschentuch, das sie mir gab. "Also gut", seufzte die junge Frau vor mir, "Ich komme gleich zurück." Mit diesen Worten verschwand Fr. Ruhrstorfer hinter der Eingangstür ihres Büros. Ich versuchte, es mir auf der roten Couch bequem zu machen und holte zitternd Luft. Gleich würde sie kommen. Die Person, mit der Ich schon so viel durchgemacht hatte. Die Person, die mich besser kannte als Ich mich selbst. Die Person, mit der...- Plötzlich klopfte es an der Tür. Ich stand zögernd von der Couch auf und bewegte mich unsicher auf die Türklinke zu. Es klopfte ein weiteres Mal, als Ich endlich die Klinke in der Hand hielt und sie sanft herunter drückte. Blitzartig ließ Ich mich wieder auf die Couch fallen und tat so, als wäre nichts geschehen. Als erstes trat Fr. Ruhrstorfer in den Raum. Hinter ihr blitzten zwei leuchtende, braune Augen auf. "Na komm'. Semer hat sich viel Mühe für dieses Treffen gegeben.", ermutigte die Schulpsychologin freundlich das Mädchen hinter ihr. Diese nickte vorsichtig und setzte sich neben mich auf die Couch. "A-Annabel...", stammelte Ich, wagte es jedoch nicht, die ältere Schülerin anzuschauen. Nach einer Weile peinlicher Stille meldete sich Fr. Ruhrstorfer erneut zu Wort: "Also, Annabel. Semer hat sich, wie gesagt, viel Mühe für dieses Treffen gegeben. Ich hoffe, ihr hört euch jetzt gegenseitig zu und achtet auf das, was die andere sagt. Ich bin währenddessen im Raum nebenan und passe dort auf ein paar Fünftklässler auf." Nachdem die Frau wieder weggegangen war, herrschte erstmal wieder Schweigen.Ich hob langsam meinen Blick von meinen Händen und wartete auf irgendeine Reaktion von Annabel. Doch diese wirkte ziemlich entspannt, anders als Ich. "Es tut mir leid" Meine Stimme war hauchdünn und klang, als wäre Ich kurz davor, loszuweinen. "Was tut dir leid?", fragte Annabel und drehte sich verwirrt zu mir um. Ihre großen braunen Kringellocken fielen ihr ins Gesicht. "Na- ...Alles", erwiderte Ich traurig, "Ich habe mich dir und den anderen gegenüber echt mies verhalten... Wir kennen uns schon seit der 5. Klasse, wir haben alles miteinander gemacht. Du und Ich, wir haben uns immer alles erzählt und hatten keinerlei Geheimnisse voreinander. Gott- Wir haben sogar am selben Tag Geburtstag! Und dennoch...war Ich so egoistisch und eingebildet zu euch allen. Vor allem zu dir. Und du, du hast das alles für selbstverständlich genommen und warst immer für mich da, wenn Ich Trost oder Unterstützung brauchte. Und als wir dann in verschiedene Klassen aufgeteilt wurden, ist für mich eine Welt untergegangen. Es war ja nicht so, dass Ich nicht schätzen würde, was du alles für mich getan hast! Aber dennoch war Ich so bescheuert und habe angefangen, meine beste Freundin zu ignorieren...." Mir liefen warme Tränen über die Wangen. Na toll, jetzt sah Ich wahrscheinlich aus wie der Tod persönlich. Auf einmal spürte Ich einen leichten Druck auf meinem Oberarm. Ich sah verwundert auf und erblickte in Annabel's Gesicht einen noch nie zuvor gesehenen Ausdruck: Wut. "Wieso bist du dann, als du deinen Fehler erkannt hast, nicht zu mir gekommen..?" Diese Frage hatte Ich erwartet. "Wie hättest du denn reagiert, wenn du einen geliebten Mensch monatelang ignoriert hast und erst jetzt, ganz plötzlich, ein furchtbar schlechtes Gewissen bekommst?" Es klang so absurd, dass ein kurzes, verwirrtes Lachen meinen Lippen entfloh. Doch das schien Annabel nicht zu beeindrucken. "Ich hätte Angst. Angst, dass mich diese Person nicht mehr mag. Ja, vielleicht sogar hasst. Dabei würde Ich nicht wissen, dass die Person ebenfalls sehr verletzt war und dennoch nicht die Hoffnung auf eine zweite Chance hat.", erwiderte sie nachdenklich. Okay, mit dieser Antwort hatte Ich jetzt nicht gerechnet. "Vielleicht hätte Ich mich aus Furcht vor der Reaktion mich gar nicht mehr bei dieser Person gemeldet. Aber du, Semer, hast es getan. Du hast dich getraut, dich bei mir zu melden" Annabel's Augen wurden warm, "Und das bedeutet, dass Ich dir etwas bedeute..." Ich konnte es nicht mehr aushalten. Ich schmiss mich in die arme der 1-Jahr älteren Schülerin und weinte ununterbrochen. Annabel tätschelte sanft meinen Kopf und lächelte freundlich. "Du bist meine allerbeste Freundin auf der ganzen Welt!!", murmelte Ich in ihre weiche Schulter. Ich hatte wirklich Glück. Glück, jemanden wie Annabel, meine beste Freundin nennen zu dürfen!

Ein leicht veränderter One-Shot aus meinem Alltag. Danke an alle, die dieses Buch lesen! ^~°

Blumensee

P.S.: Das Bild oben ist für mich ein Inbegriff wahrer Freundschaft...

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