2

16 2 0
                                    

„Also, auf welche meiner Fragen willst du antworten?", fragt der Hauptmann. Ich kann mich inzwischen wieder von alleine aufrichten und schwitze auch nicht mehr so viel.
Momentan fühle ich von meiner Brandwunde nur ein leichtes Pochen.
„Ich bin in der Armee, weil wir im Krieg sind", antworte ich.
„Du musst mir schon ein bisschen mehr liefern als das, wenn du die Ruinen nicht bald wieder mit Schreien erfüllen willst", meint der Hauptmann skeptisch.
Schnaubend sehe ich ihn an.
„Ich bin in der Hauptstadt aufgewachsen. Da ist man der Armee von Anfang an sehr nahe. Wir sind eher die Unterschicht dort. Meine Eltern arbeiten lang, ich habe zwei Geschwister. Aber es reicht zum Leben. Und wenn man dann abends aus dem Fenster sieht und die Soldaten von draußen zurückkommen, erschöpft, zerkratzt und trotzdem so glücklich -wegen der Tatsache, dass sie am Leben sind -, dass sie über das ganze Gesicht strahlen ... da denkt man doch, dass das Leben ein wenig mehr bereit hält, als trockenes Brot, ein Dach über dem Kopf und gerade noch passende Kleidung.
Also bin ich der Armee beigetreten. Im selben Alter wie alle anderen auch. Die Minister fragen einen sowieso, sobald man alt genug ist. Und ich dachte mir, warum nicht? Ich kann endlich mal froh über mein Leben sein und es bringt Geld", sage ich, atme tief ein und sehe ihn an. Er wirkt überrascht.
„Und da dachte ich, alle schließen sich der Armee an, weil sie unbedingt für ihr Land kämpfen wollen", erwidert er.
„Wenn du das gedacht hast, warum hast du dann gefragt?", fauche ich wütend.
„Weil du jünger bist, als die anderen Soldaten."
„Ich habe die Ausbildung früher abgeschlossen. Das ist alles", sage ich und verschränke die Arme.
„Na dann. Ich denke, wir können dir erlauben, ein wenig in den Ruinen herumzulaufen. Es könnte hier auf Dauer sehr unangenehm werden, wenn du immer nur im Bett bleibst. Und außerdem verkümmern dann deine Muskeln", beschließt er grinsend und steht auf.
Als würden ihn meine Muskeln interessieren. Misstrauisch sehe ich ihn an. Was bezweckt er damit?
Er holt einen Schlüssel aus seiner Hosentasche und öffnet den Eisenring um mein Handgelenk.
„Natürlich darfst du nicht alleine herumlaufen. Die Leute könnten Angst bekommen", fügt er schmunzelnd hinzu. Dann schiebt er den Vorhang zur Seite und verlässt die kleine Wandnische.
Zögernd beobachte ich die sanften Schwingungen des Stoffes. Soll ich ihm einfach folgen?
Entschlossen atme ich tief ein und trete ebenfalls hinter dem Vorhang hervor.

Sprachlos sehe ich mich um. Die Ruinen sind moosbewachsen, von Sträuchern heimgesucht und voller Menschen. Frauen stehen neben Töpfen, bei Laken und sogar in der Schmiede. Die meisten unterhalten sich und gehen trotzdem ihrer Aufgabe nach. Kinder rennen lachend herum, spielen mit den kleinen Holzsoldaten in ihren Händen.
Sie sind so weit weg von Zuhause, sie befinden sich im Krieg, haben bereits unzählige Verluste und bringen sogar ihre Familien durch ihren Stützpunkt hier in Gefahr. Und trotzdem geht es hier fröhlicher zu, als bei uns in der Hauptstadt. Hier hallt Gelächter durch die heruntergekommenen Mauern, ein leckerer Duft schwebt in der Luft und es wirkt einfach nur friedlich.
Unsere Straßen sind verhangen und düster. Das Lachen ist schon lange erstickt. Die Menschen erledigen ihre Geschäfte schnell und ohne große Freundlichkeiten. Angst treibt sie in ihre Häuser zurück. Und das, obwohl unser König sagt, wir seien dem Feind überlegen.
„Was ist? Erstaunt?", fragt der Mann neckisch mit einer Spur von Ernst. „Dachtet nicht, wir wären einfach nur Menschen wie ihr, was?"
Nachdenklich sehe ich durch die Straßen, beobachte die Frauen und Kinder. Die Männer, wie sie mit ihnen scherzen und ein Lachen auf ihre Gesichter zaubern.

Ich weiß es nicht...

Habe ich das gedacht? Ich habe mich nie genauer damit beschäftigt. Darum ging es nicht in der Ausbildung. Dort hieß es nur „töte den Feind, oder er tötet dich".
Es ist möglich, dass ich tatsächlich so gedacht habe. Und das, obwohl ich all diese hinterfragenden Gespräche mit dem Hauptmann geführt habe ...
Ob er wohl mal darüber nachgedacht hat? Hat eigentlich überhaupt jemand in unserem Land mal darüber nachgedacht?
Auf einmal komme ich mir so dumm vor.
All diese Menschen haben eine Familie. Genauso wie ich. Sie haben auch eine Mutter, die mit ihrem Lieblingsessen darauf wartet, dass sie heil aus dem Krieg zurückkehren. Auch einen Vater, der sie in die Arme schließt und all den Schmerz vergessen lässt. Vielleicht auch einen Bruder, der sich über ihre Sachen hermacht, damit sie mit ihm spielen. Und möglicherweise sogar eine Schwester, die sie an der Hand nimmt und aus flehenden Augen bittet, wiederzukommen.
„Geht es dir besser?", die fremde Stimme kommt von einem groß gebauten, breitschultrigen Mann. Er hat schwarze Haare, blaugraue Augen und einen Stoppelbart am Kinn.
„Äh, ... ja", antworte ich verwirrt.
„Das ist Raphael. Er ist derjenige, der dich mit der Lichtkanone angeschossen hat", erklärt der Hauptmann grinsend.
„Hauptmann", jammert Raphael beschämt. „Ich wollte dich wirklich nicht treffen, aber du kamst wie aus dem Nichts."
Fassungslos starre ich ihn an. Er war der Mann hinter der Kanone. Er hat direkt auf die Stadt gezielt.
„Die Mauer!", rufe ich geschockt. „Hast du die Mauer getroffen?"
„J-ja, ich glaube schon. I-ich war ein wenig abgelenkt, weißt du?", stottert er überrascht.
„Verdammt", fluche ich und schnalze verärgert mit der Zunge. Wie konnte ich das vergessen? Ich muss so schnell wie möglich zurück!
„Nicht so schnell, Kleine", bremst mich der gegnerische Hauptmann. „Ich habe dir doch schon erklärt, dass wir dich hier nicht weglassen können. Raphael, du passt auf sie auf. Lass sie auf keinen Fall hier weg, verstanden?"
„Was ist mit dem nächsten Angriff?", will Raphael wissen und ich horche auf.
„Solange schiebst du sie Luzifer unter", meint der Hauptmann nur und lässt uns stehen.
„Ja, ... also ... willst du dir unser Lager ansehen?", fragt Raphael ein wenig ratlos.
„Gerne", erwidere ich und lasse ein wenig Begeisterung in meiner Stimme mitschwingen. Er sieht erleichtert aus und geht los.
So weit ich weiß, ist Skoton nicht allzu weit von der Hauptstadt entfernt. Das sollte zu Fuß möglich sein.
„Wann lerne ich diesen Luzifer denn kennen?", frage ich, während wir durch die Straßen schlendern. In den Häuserruinen brennen Feuer mit Töpfen darüber. Darin kocht ein gut riechender Eintopf.
„Vermutlich morgen Nachmittag. Er wurde in der letzten Schlacht verletzt, deshalb bleibt er hier zurück, bis er wieder kampffähig ist", erklärt Raphael vollkommen offen. Ich nicke langsam.
Der Angriff ist also morgen Nachmittag.
Unauffällig sehe ich mich um. Wir nähern uns langsam dem Rand der Ruinen.
„Wir sollten umdrehen. Hier ist sowieso niemand mehr", schlägt Raphael vor.
„Okay", sage ich und warte bis er sich umdreht. Dann renne ich los. Ich verlasse den bewachsenen Steinboden und betrete den lockeren Sand. Meine Geschwindigkeit verringert sich dadurch nicht.
„Hey!", ruft Raphael mir hinterher und ich höre seine schweren Schritte auf dem Stein. Ich beschleunige und lasse die Ruinen hinter mir.
Während ich renne, fängt meine Brandwunde wieder an zu schmerzen. Ich kneife die Augen leicht zusammen, renne aber weiter.
Warum jetzt? Ich habe doch die Schmerzmittel bekommen!

„Bleib stehen!"

Erschrocken stolpere ich. Raphaels Stimme ist um einiges näher, als ich erwartet habe! Schnell fange ich mich wieder und renne weiter.
Ich muss nur bis zur Stadt kommen! Es ist nicht weit!
Ich keuche auf, als ein spitzer Schmerz von meinem Hinterkopf bis in mein rechtes Auge fährt.
In dem Moment packt mich Raphael am Handgelenk und zieht mich rückwärts. Hoffnungslos falle ich auf die Knie, den Kopf gesenkt.
„Bitte. Ich kriege Ärger, wenn du abhaust", bittet Raphael leise und versucht, mich sanft hochzuziehen.
„Würdest du still bei uns im Schloss bleiben, wenn du wüsstest, dass wir euch morgen angreifen?", frage ich ebenso leise. Eine aschblonde Strähne nach der anderen fällt mir ins Gesicht.
Meine Augen werden schon wieder feucht. Wütend auf mich selbst beiße ich die Zähne zusammen.
„Vermutlich nicht", gibt Raphael zu. „Aber es ist wirklich schön bei uns und wir werden dich auch ganz sicher gut behandeln!"
„Dann kette mich lieber an", spucke ich verbittert und versuche, meine Hand loszureißen. Aber sein Griff ist eisern. Wie können seine Taten nur so unterschiedlich von seiner Stimme sein?
Ist er überhaupt so nett, wie er vorgibt? Vielleicht sind sie ja wirklich alle einfach nur Feinde. Herzlose, kalte Feinde. Wenn ich sie so sehe, kann ich es ertragen. Diese Freundlichkeit macht mich krank.

Lässt mich zweifeln...

Das Bild der Kinder, wie sie lachend durch die Straßen rennen, die kleinen Holzsoldaten fest in der Hand, steht mir plötzlich ganz klar vorAugen.

Wieso? Wieso müssen wir uns so ähnlich sein?

Ich ignoriere das Brennen in meiner Wunde und bleibe einfach achtlos sitzen.
„Komm schon. Du brauchst neues Schmerzmittel. Es wirkt nur für eine gewisse Zeit",versucht Raphael mich zu überreden, aber ich reagiere nicht. Vielleicht ist es besser, einfach hier auf die Nacht zu warten. Wenn mich die Wüste verschlingt, muss ich wenigstens über nichts mehr nachdenken.
Mit einem Seufzen hebt mich Raphael hoch.
„Was - was soll das?!", fauche ich und schlage um mich.
„Wenn du nicht freiwillig mit zurückkommst, dann muss ich dich eben zwingen!", erklärt er verärgert.

Auf dem Steinboden setzt er mich wieder ab und führt mich langsam zurück zu meiner Nische, wo der alte Mann bereits auf uns wartet.
„Ich habe mich schon gewundert, wo ihr bleibt. Es ist Zeit für ihre Medizin", beschwert er sich.
„'tschuldigung, mein Fehler", entschuldigt sich Raphael verlegen und ich setze mich auf die Liege.
„Iss das", befiehlt der Arzt harsch und reicht mir einige Kräuter. Ohne Wiederworte nehme ich die Pflanzen entgegen und stecke sie mir in den Mund. Angewidert verziehe ich das Gesicht. Ein Schauer überläuft mich, als ich runter schlucke.
„Medizin muss bitter sein, sonst schmeckt sie nicht", belehrt mich der alte Mann. „Schließ' deine Augen, ich will mir deine Wunde ansehen."
„Warum muss ich dafür die Augen schließen?", frage ich verwundert.
„Ich bin Arzt, ich weiß was ich tue!", herrscht er mich an und ich gehorche schnell.
Seine Fingerstreifen immer wieder über mein Haar und meine Wangen, während er den Verband langsam abwickelt.
Raphael holt zischend Luft, als er die Wunde sieht. Ich presse vor Schmerz die Zähne zusammen. Kalte Luft streicht über das verbrannte Fleisch.
„Es sieht schon besser aus", stellt der Arzt zufrieden fest. „Das könnte jetzt ein wenig ziehen. Ich werde heilende Kräuter auf die Wunde streichen."
Ich kralle meine Hände in die Matratze und bereite mich auf das Schlimmste vor.
Ein stechender Schmerz zuckt jedes mal durch meine gesamte Wunde bis vor zum Auge,wenn er darüber streicht, aber die kühlende Salbe lindert das Brennen zumindest ein wenig.
Es ist fast eine Erleichterung, als der weiche Stoff wieder an Ort und Stelle ist.
„Es wird noch ein paar Tage dauern, bis die Schmerzen aufhören. Das Heilen dauert länger, aber ich fürchte, es wird für immer eine Narbe zurückbleiben. Und deine Haare dort werden wohl auch nicht mehr nachwachsen", fasst der alte Mann zusammen.
„Das ist schon in Ordnung", murmele ich abwesend. „Die oberen Haare verdecken das schon."
„Du solltest dich ausruhen. Es tut zwar nicht weh, aber dein Körper ist noch immer erschöpft", befiehlt der Arzt und verlässt mit einem Rascheln vom Vorhang die Nische.
Ich lege mich auf die Matratze und ziehe die Decke bis hoch zum Kinn.
Die Wunde scheint schlimm zu sein.
Raphaels zischendes Einatmen hallt immer wieder durch meine Gedanken.
Ist es wirklich so schlimm? Ich kann mir das gar nicht vorstellen. Ich hatte vorher noch nie mehr, als ein paar Kratzer. Nichts ernstes. Deshalb hat der Hauptmann auch immer gesagt, ich sei die Pflegeleichteste.
Ob ich mich wohl in der Nacht zurück schleichen soll? Schnell verwerfe ich den Gedanken wieder. Die Wüste ist in der Dunkelheit unberechenbar. Ich würde nicht lebend in der Hauptstadt ankommen. Falls überhaupt ...

Das Herz der WüsteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt