„Schließ' deine Augen", befiehlt der Arzt und ich gehorche. Langsam und sorgsam entfernt er den Verband.
„Na, dass sieht ja schon besser aus", sagt er zufrieden. Ein kalter Lufthauch streicht über das verbrannte Fleisch. Es zieht ein wenig. Eigentlich kaum noch. Erleichtert lächle ich.
„Deiner Reaktion nach zu urteilen, scheint es auch kaum noch weh zu tun", folgert der alte Mann mit Genugtuung in der Stimme. Sanft streicht er mir noch einmal Salbe auf die Wunde und wickelt den Verband dann wieder um meinen Kopf.
„Ich hoffe, ich kann hinterher mit meinem rechten Auge noch so gut sehen, wie vorher", meine ich aufgeregt. „Immerhin konnte ich es jetzt eine ganze Woche lang nicht benutzen."
Der Arzt erwidert nichts und steht auf.
„Ich denke, die Schmerzmittel brauchst du jetzt nicht mehr", sagt er dann doch noch und verlässt die Nische.
Nachdenklich starre ich auf den Boden.
Meine Wunde ist fast verheilt. Was haben sie wohl jetzt mit mir vor? Soll ich noch einmal versuchen abzuhauen?
Unsicher sehe ich zum Vorhang. Es ist schön hier ...
„Becca! Becca!", rufen zwei junge Stimmen und der Vorhang fliegt zur Seite. „Spielst du wieder mit uns? Bitte! Bitte!"
Lächelnd stehe ich auf.
Ihr Spitzname für mich erinnert mich an meine kleine Schwester. Ihrer war ganz ähnlich.
Wahrscheinlich denken alle in der Hauptstadt, dass ich tot bin. Eingeschlossen meine Familie. Ich muss zurück! Ich muss meineFamilie wiedersehen.
„Natürlich spiele ich mit euch", versuche ich mich abzulenken und folge ihnen auf die Straße. Vor ein paar Tagen haben die Beiden mich mal gebeten, die angreifenden Truppen bei ihren Holzpuppen zuspielen. Es sieht ganz so aus, als mögen sie mich.
Ich setze mich zu ihnen auf den Boden und greife nach den gegnerischen Soldaten. Also eigentlich meiner Seite ...„Die Kinder lieben es, mit ihr zu spielen. Das bringt sie sogar zum Lachen, wenn ihre Väter gerade kämpfen", höre ich eine Frau ein paar Meter entfernt zum Hauptmann sagen. Ein wenig abgelenkt versuche ich mit meiner Puppe anzugreifen, die daraufhin sofort vernichtet wird.
„Du warst ja vollkommen offen!", lacht der eine Junge mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht.
„Vergiss nicht", verstellt der andere Junge seine Stimme. „Konzentration ist das wichtigste in einem Kampf!"
„Soll ich das sein?", fragt der Hauptmann mit hochgezogenenAugenbrauen und der Junge zuckt ertappt zusammen.
„Da musst du aber noch üben. Meine Stimme ist tiefer und ich klinge weiser", belehrt ihn der Hauptmann und bringt die Beiden zumLachen.
„Rebecca, kommst du kurz? Der Arzt will dich noch einmal sehen", bittet er mich.
„Okay", sage ich und stehe auf.
„Aber Maxi", jammern die Jungen.
„Maxi?", frage ich interessiert, als der Hauptmann mich wegführt.
„Das ist ihre Kurzform von Maximilian", erklärt er mir kopfschüttelnd.
Zu zweit betreten wir meine kleine Nische hinter dem Vorhang. Der alte Mann sitzt bereits auf dem Schemel neben dem Bett.
„Es ist wegen deiner Brandwunde", sagt er, dieses mal liegt kein Lächeln auf seinem Gesicht. Unruhig setze ich mich hin und schließe die Augen. Seufzend wickelt er den Verband ab. Dann passiert eine ganze Weile lang nichts.
„Du kannst deine Augen jetzt aufmachen", meint der Arzt schließlich. Seine Stimme klingt wie beim ersten mal. Resigniert und müde.
Ängstlich öffne ich meine Augen. Nichts hat sich geändert. Rechts ist immer noch alles dunkel. Zitternd hebe ich meine Hand und taste die Umgebung um mein Auge, aber da ist nichts. Nichts, was meine Sehfähigkeit behindern würde.
„Die Lichtkanone hat deine Netzhaut geschädigt. Dein rechtes Auge ist blind", gesteht der Arzt. Maximilian reicht mir betreten einen Spiegel.Ich bin mir nicht sicher, ob ich es sehen will. Ich presse die Lippen zusammen und starre auf das dunkle Metall des Spiegels. Bin ich wirklich auf dem rechten Auge blind? Ist das wirklich möglich?
Langsam drehe ich den Spiegel um.
Mir starrt noch immer ein Mädchen mit aschblonden Haaren entgegen. Ihre Gesichtsfarbe ist wieder im normalen Bereich, auch wenn sie gerade ein wenig blass aussieht. Ihr linkes Auge ist noch immer blaugrün, aber das rechte ... es ist weiß. Eine Brandwunde erstreckt sich vom Auge über das rechte Ohr bis zum Hinterkopf. Eine Narbe, die immer zurückbleiben wird, auch wenn der meiste Teil durch die aschblonden Haare verdeckt werden kann. Ihre Augen füllen sich mit Tränen, die auf das glatte Spiegelglas fallen.
Mit zitternden Händen lasse ich den Spiegel sinken. Solch ein Auge lässt sich nicht mehr retten.
„Es tut mir Leid, Rebecca", entschuldigt sich Maximilian, während der alte Mann nur betreten zu Boden blickt.
„Ich ... ich habe mich noch gar nicht bei euch bedankt, oder?", flüstere ich mit gesenktem Blick. Die aschblonden Haarsträhnen fallen mir ins Gesicht. „Dafür, dass ihr mich aufgenommen und verarztet habt."
Ich stehe auf und verlasse die Nische. Suche Raphael und die Frau vom Bad. Ich finde beide in ein Gespräch vertieft am Rande der Stadt. Als wollten sie es mir noch einfacher machen.
„Ich wollte mich bedanken", murmele ich. Die Frau zieht erschrocken die Luft ein. Überrascht fasse ich mir an den Kopf. Ich habe den Verband in der Nische liegen lassen.
Jetzt ist es sowieso zu spät. Ich werde nicht mehr dahin zurückkehren.
„Wofür?", bringt Raphael schließlich heraus.
„Na ja, du hast mich hierher gebracht. Dank dir bin ich nicht gestorben", erkläre ich, ehe ich mich an die Frau wende. „Und du hast mit mir gesprochen, obwohl ich der Feind bin. Du hast mir sogar geholfen. Auch in den letzten Tagen. Dafür wollte ich mich bedanken."
„Gerne doch", sagt sie und bringt sich zum Lächeln. Ich nicke langsam und drehe mich um. Ich beiße die Zähne zusammen, bereite mich auf das vor, was ich als nächstes tun werde.
Mit einem Satz drehe ich mich erneut um und renne an den Beiden vorbei in die Wüste.
„Hey!", ruft Raphael mir hinterher. „Rebecca!"
„Lass sie gehen", mischt sich eine zweite Stimme ein. Als ich zurückblicke, sehe ich Maximilian neben ihm stehen. Er sieht mir hinterher. Ich kann nicht erkennen, was er für ein Gesicht macht, aber ich habe es definitiv ihm zu verdanken, wenn ich in der Hauptstadt ankomme.
Und es ist erst Mittag. Der Weg dorthin dauert zwar ein paar Stunden, aber ich werde definitiv vor der Dämmerung dort ankommen.
Ich sehe wieder nach vorne und renne weiter.Ich habe etwas vergessen ...
Ich habe mich nicht bei der Frau dafür bedankt, dass sie mich über den Krieg aufgeklärt hat.
Darüber, was die wahre Natur des Krieges ist ...
![](https://img.wattpad.com/cover/103167360-288-k905191.jpg)
DU LIEST GERADE
Das Herz der Wüste
AdventureZwei Länder. Zwei Länder von über sechzig. 7053 Soldaten. 7053 von mehr als vier Milliarden Menschen. 3403 Soldaten und 3650 Soldaten. Da kommt man sich doch irgendwie unbedeutend vor... Im Krieg gibt es immer zwei Seiten. Aber ist davon wirklich ei...