„Ich hab' gehört, du willst wissen, wo wir unsere Leichen aufbewahren?", reißt mich eine bekannte Stimme aus dem Schlaf.
„Hm? Ja", gähne ich und setze mich auf.
„Komm mit und ich zeige es dir. Du könntest sowieso ein Bad gebrauchen", sagt der Hauptmann und verlässt die Nische wieder. Ein wenig beleidigt folge ich ihm. Die Ruinen sind wieder von Lachen erfüllt, als hätte sich nichts geändert. Interessiert betrachte ich den Rücken des gegnerischen Hauptmanns. Ob er und die Soldaten überhaupt von der Veränderung in ihrer Abwesenheit wissen?
Wir gehen durch die heruntergekommenen Straßen, bis wir an eine Treppe kommen, die unter den Sand führt.
Unsere Schritte beginnen widerzuhallen. Hier unten ist es dunkel und feucht und aus der Ferne höre ich Wasser rauschen. Die Wände sehen sogar noch zerfallener aus, als oben, halten den Sand aber draußen. Auf dem Boden kann man erkennen, dass hier regelmäßig Körper entlang geschleift werden.
Wir biegen in einen großen dunklen Raum, in dem es nach Rauch und Verwesung riecht.
„Hier verbrennen wir die Leichen", erklärt der Hauptmann. Der Lichtschein der Fackeln an den Wänden des Ganges reicht kaum bis über die Schwelle, aber ich kann mir auch so vorstellen, wie es darin aussieht. Aufgetürmte Hügel aus Asche, die den ganzen Raum umfassen.
„Gehen wir weiter", sagt der Hauptmann und verlässt den Raum wieder.
„Und ihr badet wirklich hier unten?", frage ich ungläubig.
„Das Wasser, das sich hier sammelt ist eines der saubersten in ganz Etrus", sagt der Hauptmann überzeugt. Verwirrt runzele ich die Stirn. Woher will er das wissen?
Vor dem nächsten Raum hängt ein Vorhang.
„Wir haben Handtücher reingelegt. Seife gibt es auch. Und keine Sorge: Ich passe auf, dass niemand reinkommt. Du kannst dich also ganz unbesorgt waschen", meint er und zieht den Vorhang ein Stück zur Seite. Zögernd betrete ich den Raum.
Er ist groß und in der Mitte läuft das Wasser von den Wänden in einen See. Direkt an der Wand steht ein Schrank mit sauberen Handtüchern. Immer wieder durchbrechen grobe Felsen den Steinboden, aber alles ist bereits mit weichem Moos überwachsen. Die Seifen liegen direkt am Rand des Sees.
Aber am beeindruckendsten ist das runde Glasdach ein paar Meter über dem Wasser. Keinerlei Sand liegt darauf, wodurch das Tageslicht in breiten Strahlen durch das blaue Glas fällt. Es sieht auch bereits ziemlich alt aus, aber lässt alles irgendwie magisch wirken.
„Ach ja, du brauchst sicher auch neue Kleidung. Deine müsste schon voller Schweiß sein", ruft der Hauptmann laut.
„Oh, äh, ja", erwidere ich überrascht.
„Hier, Raphael hat dir etwas gebracht", sagt er und betritt den Raum. Ich nehme ihm den Kleiderhaufen ab und er verlässt das Zimmer schnell wieder. Ich nehme mir ein Handtuch aus dem Schrank und trete an den See.
Zögernd ziehe ich die Rüstung und meine verschwitzte Kleidung darunter aus. Dann steige ich in den See. Das Wasser ist kalt und doch unendlich angenehm. Der felsige Boden wird langsam tiefer. Bloß in der Mitte ist es zu tief zum Stehen. Erleichtert seufzend setze ich mich an den Rand, sodass das kühle Wasser mir bis zum Hals steht. Ich kann beinahe fühlen, wie der getrocknete Schweiß von meiner Haut abbricht und von der seichten Strömung davon getrieben wird. Vorsichtig halte ich meine Haare ins Wasser, sorgsam darauf bedacht, nicht den Verband nass zu machen.
Es ist schon lange her, dass ich so entspannt war. Ich lasse meine Finger durch das klare Wasser gleiten, sehe mir die Lichtspiegelungen auf meiner Haut an und schließe die Augen. Mein letztes Bad ist auch schon wieder eine Weile her. Immer noch mit geschlossenen Augen taste ich nach der Seife am Rand des Sees. Sie entgleitet mir beinahe, weil meine Hände nass sind. Bedächtig fahre ich über meine Arme, lasse das Gefühl wirken.
Mir ist gar nicht bewusst gewesen, wie verkrustet der Dreck auf meiner Haut schon gewesen ist.Als sich Schritte nähern, reiße ich erschrocken die Augen auf und hätte meine Kopf beinahe unter Wasser getaucht. Aber es ist nur eine junge Frau. Vielleicht fünf Jahre älter als ich.
„Ich soll dir die Schmerzmittel bringen", sagt sie lächelnd und hält mir die Kräuter hin.
Wortlos und verlegen nehme ich sie entgegen und schlucke sie mit vor Ekel verzerrtem Gesicht runter.
„Unser Arzt sagt immer: 'Medizin muss bitter sein, sonst schmeckt sie nicht!'", meint die Frau immer noch lächelnd und setzt sich an den Rand.
„Ähm, brauchst du vielleicht Hilfe beim Rücken?", fragt sie schüchtern. „Da sammelt sich auch immer viel Schweiß."
Ich nicke verlegen und gebe ihr die Seife.
Wortlos lässt sie sie über meinen Rücken fahren und ich kann mir ein Lächeln nicht verkneifen.
Dann werde ich wieder ernst.
„Warum bist du so nett zu mir?", frage ich interessiert. „Ich bin der Feind. Und ich habe schon etliche von euch getötet."
Ihre Hand zuckt ein wenig, als ich das sage, aber sie zieht sie nicht weg.
„Ich weiß nicht. Du bist noch so jung und du bist verletzt. Und du hast dich mit einem so erstaunten Blick umgesehen, als hättest du noch nie jemanden Lachen gesehen", flüstert sie unsicher.
„Es ist auf jeden Fall sehr lange her", murmele ich und ziehe die Beine an.
„Weißt du, ich halte nicht sehr viel von diesem Krieg", sagt sie mit belegter Stimme. „Egal ob man im Recht ist, oder nicht, es werden immer Menschen sterben. Und diese Menschen hinterlassen Angehörige, die um sie trauern."
Ich zögere, wage es nicht, die Worte auszusprechen: „Hast ... du schon ... jemanden verloren?"
„Ja", antwortet sie einsilbig.
Es herrscht eine Weile Stille, in der sie einfach nur meinen Rücken einseift. Dann legt sie die Seife schließlich weg.
„Hast du eine Familie?", fragt sie ebenso zögerlich wie ich.
„Ja", antworte ich und muss leicht lächeln. „Meine Eltern, eine Schwester und einen Bruder."
„Erzählst du mir von ihnen?", bittet die Frau leise. Ich kann keinerlei Hinterlist aus ihrer Stimme heraushören. Nur reine, ehrliche Neugier.
„Nun, meine Eltern arbeiten hart. Mein Vater ist Schmied, deshalb wurde er auch nicht für den Krieg eingezogen. Er stellt die Waffen für die Soldaten her. Und trotzdem hat das Geld nur gerade so gereicht. Meine Mutter ist Schneiderin. Sie arbeitet nur ein paar Straßen von unserem Haus entfernt und ihre Chefin ist sehr nett. Wenn ich heimkam, haben sie mich immer umarmt und mit einem Mal war der ganze schlimme Krieg vergessen. Aber wohl nur für mich, denn ihre besorgten Gesichter haben sich nie verändert", fange ich an und spüre einen dicken Kloß im Hals. „Meine Schwester ist noch sehr klein. Sie versteht noch nicht viel vom Krieg und empfängt mich jedes mal, wenn ich heimkomme, mit einem Stofftier im Arm an der Haustür. Wenn ich gehe, bittet sie immer um das Gleiche: Dass ich wiederkomme. Und dann habe ich noch einen Bruder. Er ist auch noch klein, aber schon älter als meine Schwester. Bevor ich zum Soldaten ausgebildet wurde, ist er immer in mein Zimmer gerannt und hat sich meine Sachen geschnappt, weil er damit spielen wollte. Inzwischen hilft er meinem Vater in der Schmiede, obwohl er erst dreizehn ist. Er hat immer diesen finsteren Blick drauf. Er denkt, er muss Mama und Papa so gut wie möglich unterstützen und er ist sehr streng mit sich selbst."
Ich schweige, den Blick gedankenverloren auf die Wasseroberfläche gerichtet.„Warum arbeitest du immer so hart?"
„Ich muss groß und stark sein!"
„Aber warum? Du bist doch noch ein Kind!"
„Damit ich Mama und Papa helfen kann! Sie haben immer den gleichen traurigen Gesichtsausdruck. Deshalb muss ihnen jemand helfen."Ich schlucke, versuche die Tränen zurückzuhalten.
„Becci! Becci! Da bist du ja wieder! Ich habe dich so vermisst!"
„Ich dich auch, Süße."
„Weißt du, wenn du weg bist, ist es hier immer so still. Alle sind immer so schweigsam. Mami, Papi und Hannes reden gar nicht mehr."
„Das tut mir Leid. Ich komme schon so oft heim, wie ich kann."
„Ist es schwer?"
„Was meinst du?"
„Zu kämpfen. Von uns getrennt zu sein..."
„Es ist sehr schwer. Ich denke ständig an euch."
„Ich wünschte, du könntest hier bleiben..."Die Wasseroberfläche kräuselt sich, als meine Träne hineinfällt. Die Frau legt mir tröstend die Hand auf die Schulter und schweigt.
Als meine Schultern aufhören zu beben, steht sie langsam auf und geht.
Ich schlucke, versuche den dicken Kloß in meinem Hals loszuwerden. Dann tauche ich meinen Körper ins Wasser, um die Seife abzuwaschen.Wieder ruhiger verlasse ich das Wasser und trockne mich mit dem Handtuch ab. Schnell ziehe ich mir die Kleidung an, die Raphael gebracht hat. Vermutlich hat er sie von einer der Frauen oben ausgeliehen. Die Kleidung ist mir etwas zu groß, aber sie ist gemütlich.
Unsicher starre ich auf die klare Wasseroberfläche. Mein Spiegelbild trägt einen dünnen, dunkelblauen Pullover und eine bequeme, lockere, schwarze Hose. Die unteren Haare sind durch die Nässe nicht mehr aschblond, sondern beinahe schwarz. Ansonsten hat sich nicht viel verändert.
Als ich wieder in den Gang trete, atmet der Hauptmann tief ein.
„Ja, das ist besser", grinst er, dreht sich um und geht den Weg zurück nach oben. Verärgert folge ich ihm.
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Das Herz der Wüste
AdventureZwei Länder. Zwei Länder von über sechzig. 7053 Soldaten. 7053 von mehr als vier Milliarden Menschen. 3403 Soldaten und 3650 Soldaten. Da kommt man sich doch irgendwie unbedeutend vor... Im Krieg gibt es immer zwei Seiten. Aber ist davon wirklich ei...