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Vienna, 2017

Sie saß am Ufer des Flusses, dessen Oberfläche im Sonnenlicht glitzerte und ließ die Kieselsteine, die die Promenade bedeckten, durch ihre Finger rieseln.

Eine angenehme Kühle stieg von dem Wasser auf und die hohen Bäume ringsum spendeten Schatten. Das Licht der Abendsonne fiel schwach durch die Baumkronen und beleuchteten ihre Augen in einem sanften smaragdgrün.

Ein Mann ging mit seinem Hund über die Brücke, schaute kurz zum jungen Mädchen hin, kümmerte sich aber nicht weiter um sie und machte sich an den beschwerlichen Aufstieg zum Gasthaus.

Die Stadt erhob sich hoch über den Fluss, steile, gewundene Wege führten hinauf, wo es immer lauter zuging. Doch bis hierher hinunter drang kein Laut. Hier war nur das Rauschen des Flusses, das Planschen der Enten und der Gesang der aus dem Süden zurückgekehrten Vögel, zu hören.

Sie betrachtete die Zweige der Bäume, die tief ins Wasser hingen und in der Strömung tanzten. Sie liebte diesen kleinen Fluss, liebte es an seinem Ufer zu sitzen und sich in ihre heile Traumwelt zu flüchten. Hier war es fast wie daheim, am Ufer des Baikalsees..

Wenn sie hier saß, konnte sie beinahe vergessen, dass sie weit entfernt von ihrem Zuhause und ihren Liebsten war und hier niemanden mehr besaß.

Sie konnte sich einbilden, sie sei immer noch in Sibirien, alles wäre wie immer, ihre Familie wäre noch am Leben und jeden Moment, würde sie die Rufe ihrer Mutter durch den Wald vernehmen, die sie zum Abendessen riefen.

Doch an diesem Tag gelang es ihr nicht, sich aus der Wirklichkeit zu träumen.

Stattdessen starrte sie immer wieder zu den vorbeischwebenden Wolken hinauf. Und immer wieder kamen ihr die Tränen. Tränen der Verzweiflung, Wut und Hilflosigkeit.

Sie war hier und nichts würde ihre Familie zurückbringen können.

Nichts und niemand.

Sie war vollkommen mutterseelenallein.

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