Seine Gedanken und Sorgen haben ihn so sehr überwältigt, dass er glatt seine Jacke vergessen hatte und einfach aus dem Haus gerannt war.
Der Regen hatte bereits nachgelassen, doch kalter Nebel zog durch die Straßen und ließ alles verschwommen und geisterhaft erscheinen. Wo sollte er bloß beginnen zu suchen? Noch dazu bei solch einem grässlichen Wetter?
Er zitterte vor Wut und verfluchte sie für ihre Naivität und ihren Leichtsinn, so dass er nicht einmal bemerkte, dass er wie ein Verrückter raste und zu Gott betete, dass ihr nichts passiert war.
Sie kannten sich schon so lange, genauer gesagt, seit sie sich vor vielen Jahren an der Autobahn Richtung Österreich kennengelernt hatten und dennoch gab es immer wieder Momente, da hatte er das Gefühl, er kannte sie überhaupt nicht.
Sie war immer mit ihren Gedanken vollkommen woanders und er kam einfach nicht mehr an sie ran. Wenn er die Hand nach ihr ausstreckte, befand sie sich nicht mehr bei ihm. Doch es war eine unausgesprochene Abmachung zwischen ihnen, nicht an der Vergangenheit zu rühren, die sie beide aus unterschiedlichen Gründen lieber vergessen wollten.
Und deshalb geduldete er sich, bis sie von selbst bereit war, seine Hand anzunehmen.
Als er an der kleinen Lichtung des Flusses am Stadtrand vorbeifuhr, stieg er aus um sich die Beine zu vertreten und lauschte dem Wind, der die Blätter der Bäume rascheln ließ, während er seine Umgebung betrachtete.
Einen Augenblick gingen ihm sämtliche Gedanken durch den Kopf, ihm wurde eiskalt und heiß zugleich und seine Kehle war wie zugeschnürt.
Wütend strich er sich die Haare aus der Stirn. Wieso hatte er nicht schon früher daran gedacht? Es schien als hätte ihn eine unsichtbare Hand hergeführt, war dies doch jener Ort, mit dem sie beide eng verbunden waren und der schon damals als ihr Geheimversteck diente, wenn sie sich einmal vor ihren Pflichten oder Problemen davonstehlen wollten.
Er nahm seine Taschenlampe heraus, was eigentlich nicht wirklich notwendig war, denn die Lichtung lag im kalten, klaren Mondschein, der so hell war, dass er deutliche Schatten warf und das Wasser des Flusses schon aus der Ferne schwach glitzern ließ.
Das leuchtende Objekt am Himmel über ihm glich einem silbernen Stein, dessen Licht beinahe blendete. Als er trotzdem zu ihm aufschaute, sah er eine kauernde Gestalt im sanften Mondlicht sitzen.
Ihm fiel solch ein gewaltiger Stein vom Herzen und gleichzeitig wurde ihm mit einem Mal klar, dass er für sie alles tun würde, selbst sein eigenes Leben riskieren, nur um ihres zu schützen. Aber er wusste auch, dass er sie nicht immer vor jedem Schmerz bewahren konnte. Diese Welt forderte von jedem ein Opfer.
Als er gedanklich seufzend bei ihr ankam, setzte er sich stumm auf einen Stein neben ihr.
„Wie hast du mich gefunden?", flüsterte Alisha leise nach einiger Zeit in die Nacht hinein.
„Ihsan?"
„Ihsan?"
„Ich habe dich schon gehört", erwiderte er nach einer Pause. „Ich habe nur keine Antwort darauf."
So saßen sie schweigend nebeneinander, nur das Klatschen der Wellen störte die stille Nacht. Alisha spürte den Schmerz in ihm; dabei war er ein Mann, der so etwas gewöhnlich gut zu verbergen wusste.
Plötzlich vernahm sie durch ihre Gedanken seine raue Stimme, die etwas entfernt klang. Überrascht schaute sie auf und sah, dass er schon vorgegangen war, in der Annahme sie folge ihm und sprach gerade über ihre Tante.
Als sie den Namen ihrer Tante hörte, sprang sie erschrocken auf und lief ihm fluchend hinterher. Wie konnte sie bloß ihre geliebte Olga vergessen? Sie wollte sich nicht vorstellen, wie verrückt sie vor Sorge geworden war.
Sie bombadierte ihn regelrecht mit Fragen, während er sich scheinbar seelenruhig im hellsten Schein des Mondes eine Zigarette anzündete.
„Ihsan! Sag schon, was ist mit ihr? Warum hast du es nicht schon vorher ausgespuckt? Los los, Beeilung, wir haben nicht die ganze Nacht Zeit!"
Er musste unwillkürlich grinsen, wenn man die Tatsache beachtete, weshalb sie sich überhaupt Sorgen machen musste und sie beide hier jetzt mitten in der Nacht standen. Doch er sagte nichts, warf ihr bloß die Schlüssel zu und atmete ein letztes Mal den Rauch in die Ferne aus. Er schnippte die Zigarette auf den Asphalt, wo sie fort vom Wagen kullerte und glühende Funken verspritzte, wie Tränen, bevor sie in eine Pfütze rollte und ihr Glimmen erlosch.
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You'll never be alone
RomanceDie gute Nachricht: Alles ist vergänglich. Die schlechte Nachricht: Alles ist vergänglich.