Fünfzehntes Kapitel

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„Ich glaube, du wirst langsam irre." Samuel spuckte diese Worte förmlich aus und versetzte mir dadurch unwissentlich einen Stich ins Herz. Ich schluckte schwer, war aber immer noch zu aufgebracht, um still sein zu können und einfach meine Klappe zu halten.
„Denk einfach mal nach, okay? Nehmen wir wenigstens für einen Moment an, dass ich recht haben könnte."

Samuel schnaubte und schüttelte wütend den Kopf. Seine Hände packten mich an den Armen und kurz war ich mir sicher, dass er mich schütteln würde.
„Nicht einmal für einen Moment ist deine absurde Theorie realistisch, Mädchen", schärfte er mir ein. Zorn flackerte in seinen Augen auf. Ich holte tief Luft und blies ihm meinen Atmen ins Gesicht.

„Wenn du mal für eine Sekunde ernsthaft darüber nachdenken würdest, könntest selbst du erkennen, dass das hier unmöglich Zufall sein kann, Samuel." Für den Bruchteil einer Sekunde ließ sein Gesichtsausdruck deuten, dass er wirklich in Erwägung zog, mir Glauben zu schenken, doch dieser Moment verpuffte sofort wieder.

„Lass das in Zukunft", sagte er stattdessen, „du hast üblen Mundgeruch."
„Du riechst auch nicht besser", verteidigte ich mich und biss mir auf die Lippe. Ein wenig unangenehm war mir das jetzt allerdings schon.
„Spielt keine Rolle, wir müssen diesen Kerl finden. Wenn wir ihn finden und das Team noch nach ihm sucht, ist es möglich, dass wir ihnen ebenfalls über den Weg laufen, verstehst du?", sagte er, während er schon weiterging und mich zurückließ.

„Was, wenn es gar keinen Vermissten gibt, Samuel?", schrie ich nun laut. Ich hatte es wirklich satt! Wieso konnte er mir nicht einmal zuhören? Doch er schien auch nicht sehr zufrieden mit mir zu sein. Abrupt drehte er sich um und hatte sichtlich Mühe damit, einigermaßen ruhig zu bleiben.
„Wer sollte es sonst sein, Julia? Du hast definitiv zu viele Filme und son Scheiß geguckt. Wir haben unser Team verloren, weil wir auf der Suche nach einem Vermissten waren und haben uns dabei selbst verlaufen. Das ist dämlich, aber leider die Wahrheit. Akzeptiere das endlich und hör auf Horrorgeschichten zu erfinden, wie so eine pubertierende Teenagergöre!" Samuel drehte sich wieder um und ging weiter, doch als er merkte, dass ich ihm nicht hinterherkam, blieb er stehen und ging schnurstracks auf mich zu. Binnen weniger Sekunden hatte er meine Hand gepackt und zog mich hinter sich her. Sein Griff war so fest, dass ich mich gar nicht wehren konnte. Aber wollte ich überhaupt stehenbleiben? Definitiv nicht, wenn er fortging. Was sollte ich hier auch allein?

„Samuel", murmelte ich, hoffend, dass er mir endlich Gehör schenken würde, aber wohl wissend, dass er es nicht tun würde.
„Hier ist dein Plan, Julia: Wir finden den Mann und werden vom Team gefunden. Fertig. Dann kannst du nach Hause und ich hab dich nicht mehr am Hals." Er warf mir einen bitterbösen Blick zu, den ich nur zu gerne erwiderte. Trotzig riss ich meine Hand los, ging aber trotzdem noch neben ihm her. Mein Blick auf den Boden gerichtet, versuchte ich durch mein Stampfen alle Schlangen, die hier möglicherweise in meiner Nähe waren, fernzuhalten. Was hatte ich mir hierbei eigentlich gedacht?

„Hast du das gesehen?", zischte Samuel ein paar Augenblicke später und hielt an. Vermutlich unbewusst griff er nach meinem Arm. Ich sah auf und blickte in die Richtung, in die er vorsichtig deutete. Entdecken konnte ich allerdings nichts.
„Nein?", antwortete ich, wobei es eher wie eine Frage klang. Sollte ich denn etwas sehen?
„Da war aber etwas", murmelte er abwesend. Sofort dachte ich an eine Schlage, oder an einen Schimpansen oder eine Raubkatze, oder etwas, was mindestens genauso gefährlich war. Vielleicht auch eine Spinne.

„Was denn?", jammerte ich ängstlich und drückte mich so unauffällig wie möglich an ihn.
„HALLO?", rief er stattdessen laut, was mich die Stirn runzeln ließ. Aus welchem Grund sollte er einer Raubkatze zurufen? Doch dann sah ich es auch. Vielleicht zwanzig Meter von uns entfernt stand jemand. Kein Tier. Ein Mensch.
„Wir haben ihn", flüsterte Samuel erleichtert und ließ meine Hand los, um damit zu winken.
„HEY, HIER SIND WIR!" Ich starrte Samuel an, der irgendwie auf eine seltsame Art glücklich wirkte, so wie ich ihn noch nie gesehen hatte. Mein Herz schlug mir bis zum Hals und doch wusste ich nicht recht, was ich von dem hier halten sollte. Man konnte ihn durch den dichten Dschungel kaum erkennen, bloß, dass er eindeutig männlich war und recht groß und stämmig erschien. Offenbar bemerkte er uns nicht.
„Los komm", sagte Samuel zu mir und ging über eine Wurzel, die aus der Erde herausragte. Und genau in dem Moment passierte es. Der Mann, der eindeutig in unsere Richtung gesehen hatte, lief davon.

Aufbruch ins UnbekannteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt