Sechstes Kapitel

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„Ach ja, das", sagte Samuel nur, trat neben mich und kratzte sich unschlüssig am Kopf. „Da war ja was ..."
„Was soll das denn heißen?" Meine Stimme war fast schon ein Kreischen. Plötzlich dämmerte mir, dass vielleicht er etwas damit zu tun haben könnte, dass in meinem Rucksack statt Geräten und Vorräten jetzt Steine zu finden waren. Aber wieso hätte er den Inhalt austauschen sollen? Was hätte er davon gehabt? Allerdings bestätigte sich mein Verdacht sehr viel schneller, als ich gedacht hätte.

„Ich wollte es dir etwas schwerer machen", seufzte er, die Augen verdrehend, als ob es ihn jetzt nerven würde, mir die Sache zu erklären. Aber irgendwie wirkte er auf mich abwesend ...
„Wieso schwerer?", hauchte ich, den Tränen nah. Für viel mehr fühlte ich mich eindeutig nicht mehr in der Lage. Verdammt, kratzte mein Hals! Angespannt ließ Samuel seinen eigenen Rucksack auf den Boden sinken und zog wortlos eine Feldflasche heraus, die er mir hinhielt.

„Hier ist deine", sagte er dann, als wäre noch eine Erklärung nötig. Ich griff so hastig nach der Flasche, dass man meinen könnte, mein Leben würde davon abhängen. Gewissermaßen tat es das aus. Gierig trank ich sogleich die halbe Flasche leer. Die Flüssigkeit fühlte sich wie Balsam in meinem wunden Hals an und ließ mich erleichtert aufatmen.

„Und jetzt zu dir! Wieso hast du das getan?" Sofort spürte ich die Wut wieder, die erneut in mir aufflackerte.
„Damit du ein wenig mehr zu schleppen hast", erwiderte er genervt und schüttelte den Kopf, als läge es auf der Hand. „Nehme die Teile einfach raus und dann gehen wir weiter."
„Du bist neunundzwanzig, keine fünfzehn", schnauzte ich aufgebracht. Was fiel ihm eigentlich ein? Aus dem Grund war mein Rucksack also die ganze Zeit über so schwer gewesen und er hatte mir kein Sterbenswort darüber gesagt!

„Zugegeben, es war nicht ganz nett von mir, aber du kannst mir glauben, dass wir durchaus größere Probleme haben, als ein paar Steinchen." Er wirkte nicht wütend, wie sonst immer. Im Gegenteil, er sprach ruhig, fast schon besorgt, was mich wiederum beunruhigte.
„Was ist los?", fragte ich leise und drückte die Feldflasche fest an mich. Samuels Blick ruhte lange auf mir und ich hörte, wie er schluckte.

„So wie es aussieht, haben wir uns verlaufen. Und es gibt keine Möglichkeit, jemanden aus dem Lager zu kontaktieren." Mein Herz schlug auf einmal hundert mal schneller. Was hatte er da gerade eben gesagt? Mein Gehirn weigerte sich, das zu realisieren.
„Komm schon Samuel, hör endlich auf mich zu verarschen. Du hast dir genug Spaß mit mir erlaubt, bring uns jetzt einfach nur ins Lager zurück, okay? Dann können wir uns wieder aus dem Weg gehen", bat ich. Meine Stimme hatte bereits einen flehenden Unterton angenommen, aber das war mir egal.

„Verdammt, Julia!", rief er so laut aus, dass ich zusammenzuckte und raufte sich die Haare. „Ich sage dir die Wahrheit. Ich habe keinen Grund, dich zu belügen. Zumindest jetzt nicht." Für den Bruchteil einer Sekunde flackerte Panik in seinem Gesicht auf, doch er hatte sich schnell wieder im Griff. Ich schmunzelte. Sagte er vielleicht doch die Wahrheit? Aber das konnte nicht sein. Durfte es einfach nicht.
„So wie mit den Steinen, ja?", schnaubte ich verächtlich und hielt mich an der Hoffnung fest, dass er mich belog.

Samuel drehte sich von mir weg, suchte mit seinem Blick den nackten Dschungel ab. „Das ist etwas anderes. Du bist dümmer, als ich angenommen hatte."
Bei seinen Worten zerbrach etwas in mir. Das musste ich mir nicht bieten lassen. Mein Traum vom Dschungel platzte immer mehr und mehr. Wütend und verletzt machte ich ein paar große Schritte auf ihn zu und packte ihn grob am Arm. Seine Haut unter meinen Fingern fühlte sich warm an, seine Muskeln hart.

„Hör jetzt endlich damit auf!" Ein paar Tränen liefen ungebremst meine Wangen hinunter. „Samuel, sei wenigstens einmal ehrlich zu mir. Nur dieses eine Mal. Stecken wir wirklich in der Klemme? Oder ist das so ein Streich, eine Aufnahmeprüfung, ein Ritual oder so etwas? Ist es das? Denn wenn ja, finde ich das überhaupt nicht witzig." Samuels Kiefermuskeln arbeiteten und seine Augen nahmen einen ernsten Ausdruck an.

„Wir stecken mächtig in der Scheiße." Erschreckend war, dass er dabei aufrichtig klang. Mit einer Wucht, die für mich so unerwartet war, fing ich an, ihm zu glauben. Und es war das furchtbarste, was ich je getan hatte.
„Und ... und", meine Stimme zitterte und ich schaffte es nicht, sie in den Griff zu bekommen, um den Satz an einem Stück auszusprechen. Keuchend schnappte ich nach Luft, als hätte sie mir jemand zuvor abgeschnitten. „Und wie ... ich meine, was ... was tun wir jetzt?" Ich drehte mich um. Und zum ersten Mal sah ich den Dschungel nicht voller Leidenschaft, nicht voller Erstaunen an. Ich betrachtete ihn als Schrecken, als Gefahr. Er war nicht wie ein zahmes Hundebaby, er war wie eine Raubkatze. Plötzlich erklang ein leises Rascheln links von mir und ich zuckte erschrocken zusammen, während ich immer panischer werdend nach der Quelle suchte.

„Das war nichts", flüsterte Samuel ruhig. „Keine Sorge."
„Keine Sorge?", regte ich mich auf. „Ich soll mir keine Sorgen machen?" Aufgebracht baute ich mich vor ihm auf. „Ich musste mit dir durch diesen Dschungel rennen. Du hast uns auf eine völlig falsche Fährte gelockt und jetzt soll ich mir keine Sorgen machen? Du spinnst doch!"

Ich hätte auf Mom hören sollen! Alles hatte ich zurückgelassen, war nicht einmal sicher, ob Lukas mir verzeihen würde und wofür? Um hier zu versauern?
„Wir stecken hier wirklich fest?", schniefte ich, nur, um noch einmal sicher zu gehen, ob ich auch wirklich alles verstanden hatte. Doch entgegen meiner Hoffnung nickte Samuel.
„Ja, sieht so aus."

Mein Herz pochte heftig gegen meine Brust, ließ sich gar nicht mehr beruhigen, während der Schweiß aus sämtlichen Poren ausbrach und mir Tränen über die Wangen rollten. Jetzt war es mir auch egal, ob Samuel es sah und was er darüber dachte.
„Es tut mir leid, Julia", murmelte er. „Ich hab zwar keinen blassen Schimmer, wo wir gerade sind, aber wir werden schon wieder herausfinden." Was war er bitte für einer? Samuel war ein Forscher. Wie konnte er dann nur so dämlich sein und blind in die Tiefen des Dschungels laufen? Wir waren nicht in einem Wald, das hier war viel undurchsichtiger. „Hoffentlich", fügte er flüsternd hinzu, was mir den Rest gab. Was hatte ich bloß getan? Immer schon hatte ich nach Abenteuern gesucht. Dann hatte ich den Dschungel betreten, ohne zu wissen, wie gefährlich es hier sein konnte. Und nun kam ich nicht mehr hinaus.

Aufbruch ins UnbekannteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt