Siebenundzwanzigstes Kapitel

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Um uns herum hörte man Vögeln zwitschern, irgendwo in der Ferne kreischten die Affen, doch ganz plötzlich war in meiner Welt alles still. Es schien keinen Dschungel mehr zu geben, keine Gefahr, nichts, wovor ich mich fürchten brauchte und dieses Gefühl kam so überraschend, dass es mir den Atem raubte. Ich fühlte mich wie in einer warmen Kugel, dort, wo mir nichts geschehen konnte.

„Was ... was hast du gesagt?", flüsterte ich, meine Augen auf Samuels' gerichtet. Ich holte tief Luft als hätte ich seit Jahren nicht mehr geatmet, während ich bedauerte, dass er seine Finger von meiner Wange nahm und mit ihnen auch die Wärme, auch wenn hier noch immer die schwüle Hitze herrschte. Sofort sehnte ich mich nach seiner Berührung auf meiner Haut, die noch immer ein wenig prickelte.

„Ich verspreche dir, dass ich dich beschützen werde", antwortete er leise, legte den Kopf schief und sah mich mit einem Blick an, der so intensiv war, dass mir ein angenehmer Schauer über den Rücken lief. „Ich sagte doch, ich mag dich." Sein Lächeln, welches daraufhin auf seinem Gesicht auftauchte, ließ mich nicht an seiner Ehrlichkeit zweifeln. Nicht eine Sekunde.

„Wir werden uns gegenseitig beschützen. Und das müssen wir auch." So würden wir es schaffen, da war ich mir sicher. Kurz verschwanden all die Zweifel, die ich hegte. Sie waren wie weggewischt. Samuel sah mich an und irgendwas in seinem Blick gab mir die Bestätigung, die ich brauchte. Ganz egal was auf uns zukommen würde, wir waren stärker. Stärker als alles, was uns im Dschungel erwartete. Ganz langsam beugte er sich nach vorne, stockte vorsichtig und erst glaubte ich, er würde mich küssen wollen, doch dann streckte er seine Hand aus und strich mir eine Haarsträhne hinters Ohr. Seine Fingerkuppen streiften meine Haut, was beinahe schon kitzelte. Und erst in dem Augenblick, als er sich wieder aufrichtete und sich umschaute, wurde alles wieder präsent. Die Vögel, die Affen, das Rascheln, der Dschungel und ich spürte ganz klar und deutlich Enttäuschung, die sich in mir breit machte, sich unweigerlich in mein Herz fraß und das Schlimme war, dass ich rein gar nichts tun konnte, um sie nicht zu fühlen. Sie war da. Eindeutig. Und das dürfte sie eigentlich nicht sein. Denn was bedeutete das nun? Ich hätte es zugelassen, zugelassen, wenn er mich geküsst hätte, das wurde mir jetzt klar. Nein, ich hätte es nicht nur zugelassen, ich hatte es mir sogar gewünscht. In mir krampfte sich alles zusammen und ich versuchte, das Gefühl abzuschütteln, oder es wenigstens zu ignorieren, irgendwo tief zu begraben, nie wieder herauszuholen, aber es gelang mir nicht. Es war viel zu allgegenwärtig, als dass ich es loswerden könnte. Ich sah diesen Mann an, sah ihn mit anderen Augen und wusste plötzlich, dass diese Art, die auf mich so nervig und abschreckend gewirkt hatte, bloß Fassade war, um von ihm, seinem eigentlichen Ich, abzulenken. Es gab noch Hoffnung für ihn.

„Julia, pass auf!" Sein Schreien kam plötzlich und riss mich abrupt aus meinen Gedanken heraus. Ich war so damit beschäftigt, schockiert zu sein, dass ich im ersten Moment gar nicht so recht realisierte, was genau eigentlich passiert war. Doch als ich den brennenden Schmerz in meinem linken Arm spürte und verwirrt und wie benebelt den Kopf neigte, um zu sehen, was ihn auslöste, weiteten meine Augen sich vor Schreck und ich begann lauthals zu schreien. Nicht nur vor Schmerz, sondern auch vor Angst, jedoch viel mehr vor Entsetzen. In meinem Körper steckte ein Pfeil.

„Scheiße verdammt", brüllte Samuel. „DU ARSCHLOCH!" Er klang zornig, doch das bekam ich nur halbherzig mit. Mir wurde schwindelig, meine Knie gaben nach und ließen mich auf den Boden aufkommen, alles um mich herum schien sich zu drehen, nichts hatte mehr Konturen, die Welt bestand nur noch aus einer einziger Masse an Farben.

„Werde jetzt bitte nicht ohnmächtig", rief Samuel und ich wusste nicht, wie er es so schnell hinbekam, aber irgendwie landete Wasser in meinem Gesicht, was mich wieder ein wenig mehr zur Besinnung kommen ließ. Er hielt mir die Cola hin, woraus ich einen kleinen Schluck trank, während mir unaufhörlich Tränen übers Gesichts rannen und ich zitternd meine freie Hand auf dem Boden abstützte. Der Schmerz war einfach viel zu stark.

„Ich hol das Ding jetzt da raus, okay?", rief Samuel viel zu laut und fasste mich an der Schulter, die, deren Arm nicht verletzt war, und umfasste den Pfeil.
„Nein", protestierte ich weinerlich und sah ihn flehend an. „Bitte tu das nicht." Ich hatte Angst. Scheißangst! Mein Herz schlug in Höchstgeschwindigkeit gegen meine Brust, so stark, wie ich es noch nie gespürt hatte.
„Das Teil muss da raus, Mädchen! Es geht nicht anders." Er drückte einmal kurz meine Hand, dann nickte ich.
„Bei drei", sagte er und holte tief Luft. Ich biss die Zähne zusammen, schniefte und drehte meinen Kopf in die andere Richtung. Ich wollte das nicht! Wieso steckte ein Pfeil in meinem Arm? War es etwa Absicht gewesen oder bloß ein Versehen? Auf jeden Fall war er hier irgendwo in der Nähe, hielt uns gefangen und verletzte mich. Meine Finger krallten sich in die nackte Erde und kurzzeitig war es mir ganz gleich, welche Tiere dort lauern könnten.

„Eins. Zwei. Drei", zählte Samuel, doch der Schockmoment blieb aus. „Verdammt", keuchte er und zögerte offenbar. Er hatte es noch nicht getan. Ich drehte mein Gesicht zu ihm, sicher, dass er den Pfeil nicht herausziehen würde. In diesem Augenblick konnte ich mir nicht einmal mehr erklären, wieso ich das überhaupt getan hatte. „Scheiße", brüllte er dann und es passierte. Mit einem kräftigen Ruck zog er diesem verdammten Pfeil aus meinem Fleisch, ließ mich aufschrien und mir schwarz vor Augen werden. „Geschafft, Julia, geschafft", rief er hektisch aus und legte seinen Arm eng um meinen Rücken. „Es wird alles gut, es wird alles gut", wiederholte er und hielt mir die Colaflasche vor die Nase. Schwindel ergriff meinen gesamten Körper und ich konnte ihn nicht mehr halten. Ich kippte zur Seite und spürte die harte Erde unter meinem Gesicht.

„Nicht so liegen", murmelte Samuel und zog mich an den Schultern wieder hoch. „Wir müssen das jetzt irgendwie verbinden", murmelte er, mehr zu sich selbst als an mich gerichtet. Ich merkte, dass er den Saum seiner Jacke entzwei riss und das Stück Stoff um meinen Arm wickelte. War das überhaupt gut, wenn es nicht steril war? Der plötzliche Druck darauf ließ mich abermals aufschreien. „Das ist nicht perfekt, aber besser als nichts", sagte er.

Es dauerte eine Weile, bis ich mich in der Lage fühlte, mit Samuels' Hilfe stehen zu können, ohne zu drohen, umzukippen. Mir war noch immer schwindelig und der Schmerz schien meine Sinne völlig einzunehmen und zu verzerren. Wieso hatte er das getan? Ich hatte diesem Kerl keinen Anlass dazu gegeben, mich zu verletzen. Unter Schock starrte ich auf den Pfeil, den Samuel achtlos auf den Boden geworfen hatte und entdeckte an ihm etwas ungewöhnliches, wobei ich mir im ersten Moment nicht ganz sicher war, ob ich es mir nicht einbildete. Es war nicht nur der Pfeil selbst, der dort lag, sondern mit ihm ein Zettel, dran gebunden wie ein Brief ans Bein einer Taube.

„Wollte er sichergehen, dass wir das hier bekommen?", fragte ich mit weinerlicher Stimme und zeigte kaum merklich auf das Blatt Papier. Stutzend hob er es auf und faltete den Zettel auseinander. In der Zwischenzeit setzte ich mich wieder auf den Boden, nachdem ich einen kurzen prüfenden Blick auf die Stelle geworfen hatte.

„Hier, dass musst du selbst sehen", sagte Samuel dann und reichte mir den Zettel. Ich blinzelte ein paar mal, ehe meine Augen wieder scharf sahen. Verdammt tat das weh!
Sie werden euch nicht finden.
Nur diese eine Zeile stand dort geschrieben, doch es war nicht nur der Satz, der mein Blut in den Adern gefrieren ließ. Unter ihm war ein Bild abgebildet, verschwommen, aber doch deutlich zu erkennen. Gregory und Allison. Knutschend. Mein Verdachte war also bestätigt. Sie waren nicht nur Arbeitskollegen, sie waren mehr.
Aber bedeutete dieser Zettel dann, dass sie uns gar nicht erst suchten?

Aufbruch ins UnbekannteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt