Kapitel 20

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Die nächsten Wochen lag ich in meinem Zimmer und starrte an die Decke. Ich ging nicht zur Schule. Ich wollte nichts essen, nichts trinken. Zu groß war der Verlust. Zu groß war die Trauer. Zu groß war die Wut.

Ich war am Boden zerstört. Ich konnte nicht mal schlafen, so sehr ich es auch wollte. Doch immer, wenn ich meine Augen schloss, sah ich sie. Hörte sie auf den Boden aufprallen. Ein dumpfer Schlag. Und ich sah den Schulhof.

Ich sah Blut. So viel Blut. Ich sah Leichen. Ich sah ihn. Ihren Mörder. Sah diese Augen, blau-grau mit einem braunen Rand um die Iris. Unverwechselbar. Dann empfand ich unbändige Wut und fing an, zu heulen. Vor Wut und vor Trauer.

Während ich in meinem Bett lag, zusammengesunken wie ein verdammten Häufchen Elend, kamen viele Freunde zu mir, um mich zu besuchen.

Jeder Einzelne hatte einen zum Scheitern verurteilten Aufheiterungversuch dabei. Beispielsweise Channing Tatum mit seinem Wundermittel für alles: Alkohol.

Oder auch Alex mit einer ihrer klassischen Comedy-Stand-Up-Auftritte. Die waren normalerweise zum Schießen, jedoch trauerte sie auch, wenn auch nicht so übertrieben wie ich.

Und dann war da noch Logan, der versuchte, mit Sing- und Tanzeinlagen mich aus dem Bett und zum Lachen zu bringen. Keine derer Strategien funktionierte.

Das Einzige, was vielleicht funktioniert hätte, wäre alles zusammen, also sich sturzbesoffen eine Comedy Einlage mit dem singenden Logan als Backgroundtänzer reinzuziehen.

Ich meine, stell dir mal vor, dein bester Freund würde sterben und du siehst zu. Du bist suizidgefährdet. Zumindest in der ersten Woche.

In der zweiten Woche fängst du an, wieder zu essen und zu schlafen. Und du gehst wieder zur Schule, weil du denkst, du seist bereit. Doch dann siehst du jenen Schulhof, jenen Zaun, jenen Grasbüschel. Und du bist wieder suizidgefährdet.

Es dauert noch eine Woche, bis du wieder beginnst, deinen Hobbies nachzugehen, weil sie dich nicht an das Verlorene erinnern.

Nach einer weiteren Woche zwingt dich deine Mutter, wieder zur Schule zu gehen. Dort denkst du aber nur an Trish, egal welches Fach du hast. Außerdem wirst du von jedem verdammten Typen angequatscht, von wegen ,,Was kann ich machen, damit es dir besser geht? *zwinker zwinker*".

Dann triffst du wieder auf Logan. Ihr küsst euch. Ihr kommt zusammen. Er sagt dir, dass er dich liebe und du erwiderst es. Du willst es Trish erzählen, doch dann wird dir klar, dass du ihr nie wieder etwas erzählen kannst.

Und du fällst wieder in dein Loch. Nur diesmal gräbst du dich so tief ein, dass du nicht mehr unbeschadet herauskommen kannst. Du bist so weit unten, dass du nicht mal mehr deinen Freund hörst. Die Tage ziehen an dir vorbei.

Du siehst sie wie durch eine Glasscheibe: Die Stimmen sind gedämpft, du greifst nicht ein, lässt alles über dich ergehen. Deswegen schrie mich Logan mehrmals an, während ich nur dasaß und nichts sagte, mich nicht mal bewegte.

Er sagte mir, er wüsste, ich würde trauern, trotzdem gäbe es mir nicht das Recht, nicht zu leben. Er sagte, er könnte das nicht mehr, nahm seine Jacke und stürmte hinaus. Ich hätte eigentlich am Boden zerstört sein müssen, aber ich war es nicht.

Irgendwann, nach so zwei bis drei Wochen, realisierte ich, dass zwei Monate genug Zeit waren, um zu trauern.

Ich war in der letzten und gefährlichsten Phase des Trauerns angelangt: der Phase, in der man langsam, aber sicher, verrückt wird.

Ich entschloss mich, in den Winterferien zu meinem Vater nach Kanada zu fliegen, um mein Geburtstagsgeschenk einzulösen. Falls du dich nicht mehr erinnerst: Waffe. Es war der schlimmste Zeitpunkt.

Kleiner Tipp fürs Lebens: falls du in der letzten Trauerphase bist, nimm niemals, wirklich niemals, eine Waffe in die Hand. Es endet nicht gut. Beweisstück A.

Also, ich fliege nach Kanada, alleine. Am Flughafen werde ich dann von Dad abgeholt. Er hatte keine Ahnung, was passiert war, denn sowas sind keine Neuigkeiten, die man über Skype​ erzählt.

Er fragte mich, warum ich so zurückhaltend sei, weil ich während der Autofahrt fast kein Wort sagte. Normalerweise vergeht keine Minute, in der ich nicht irgendwelche komischen oder verrückten Stories aus Deutschland erzählte. Ich erzählte ihm also von dem Amoklauf.

Weil ich langsam verrückt wurde, endete ich die Erzählung mit einem Satz, den ich in der nächsten Woche zu oft wiederholen sollte: Aus Trish würde Trash. Nicht wirklich lustig, oder? Ich fand es damals aber total lustig, während mich alle anderen geschockt ansahen.

Ich meine, welches normale Mädchen fängt an, zu lachen wie der Joker, nachdem sie eine Geschichte erzählte, in der ihre beste Freundin stirbt?

Warum ich hier bin...Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt