Raven stand mit mir im Zug, schenkte mir ihre Aufmerksamkeit, indem sie sich Anhörte, wie ich mich über meine Chemielehrerin aufregte, die mir kurz zuvor eine schlecht benotete Prüfung zurückgegeben hatte. Diese mochte ich keinesfalls. Die Lehrerin war eine strenge, disziplinierte Frau, welche nicht selten herablassende Sprüche ihren Schülern gegenüber verwendete. Obwohl ich selbst die Prüfung versaut hatte, galt all meine Wut ihr.
„Wie ich die hasse", beendete ich mein genervtes Gerede seufzend.
„Wünschst du ihr den Tod?" Verwundert sah ich zu Raven, jene mich monoton anblickte. Ihre Augen sahen durch mich hindurch, ihr Blick wurde von der Leere verschluckt.
„Nein", wehrte ich ruhig ab, wurde allerdings neugierig. Raven überraschte mich.
„Dann ist es kein Hass." Sie senkte den Blick. Ich fühlte förmlich die Finsternis in ihrer Seele. Das Leid, jenes dieser Satz wiederspiegelte, ging tiefer.
„Was ist Hass für dich, Moon?" Ich nannte sie immer öfters bei ihrem Kosenamen, den ich ihr gegeben hatte. Mir gefiel der Gedanke, dass ich der Einzige war, der sie so nannte, dass ich der Einzige für sie war.
Sie erwiderte lange nichts und ich vermutete bereits, sie würde mir nicht Antworten, als sie aufsah. Geradewegs blickte sie mir in die Augen. Ihr rabenschwarzer Seelenspiegel zog mich in sich hinein. Ich versank darin wie in Treibsand, wie in einer Flut Pech.
Raven – jetzt verstand ich. Ihre Seele bestand lediglich aus Asche und war mit Rabenfedern gebrüstet. Zum ersten Mal bemerkte ich die schwarzen Flügel aus ihrem Rücken ragen, geschmückt mit rostrotem Blut.
„Hass ist beißender, zerstörerischer als Wut, trügerischer und hinterhältiger. Hass ist wie ein Schatten, der unmerklich mit der untergehenden Sonne wächst. Hass ist die eintreffende Nacht, die dein Herz vor Angst rasen lässt, während sie dich zeitgleich ergreift und kontrolliert. Hass ist kein Gefühl, sondern eine Obsession."
Ich war zutiefst beeindruckt. Soeben lernte ich, dass ich niemals jemanden abgrundtief gehasst hatte. Sie offenbar schon. Wurde Raven bereits von ihm kontrolliert, von ihm wie eine Marionette gesteuert?
„Nicht jeder reicht dem Hass die Hand." Insgeheim hoffte ich, sie würde meiner Aussage zustimmen. Sie soll nicht von ihrem Hass getrieben werden, denn ich alleine sollte ihre Besessenheit sein, so, wie sie meine war.
„Nein", sie lächelte verbittert, „nicht diejenigen, die ihn niemals kennenlernten."
„Du doch auch nicht." Ich wusste die Antwort bereits, dennoch gab ich meine Hoffnung nicht auf, ließ meine Vermutung noch nicht zur sicheren Tatsache werden.
„Unschuldiges Erscheinen bezeichnet noch lange keine Unschuld." Sie konnte meinem Blick nicht länger standhalten, sie wich meinem aus.
Raven. Der Name passte zu ihr. Unter ihrer Haut schlummerte eine finstere Bedrohung, eine Gefahr für uns alle oder gar für sie selbst.
Nichtsdestotrotz blieb ich bei ihr.
Raven.