Raven hatte es geschafft, lange Zeit mehrere Tage nacheinander in der Schule zu erscheinen. Ihr war es gutergangen, wie mir schien. Allerdings war mir klargewesen, dass die guten Zeiten vorübergehen werden.
Tage vergingen, in denen sie nicht zur Schule kam. Jeden Tag ging ich nach der Schule zu ihrer Wohnung und beobachtete durchs Fenster, wie sie reglos dalag und die Wand anstarrte. Sie erinnerte an eine Leiche, eine leblose Hülle. Es schreckte mich nicht ab, wie man meinen könnte. Eher steigerte sich mein Interesse.
So stand ich auch heute hier. Hingegen zu dem gewöhnlichen Ablauf, näherte mich ihrem Fenster und klopfte an die Scheibe. Sie reagierte nicht, realisierte es womöglich nicht. Raven war vollkommen weggetreten.
Nochmals klopfte ich, diesmal stärker. Sie schrak sichtbar zusammen. Langsam erhob sie sich und taumelte auf mich zu. Sie öffnete das Fenster, begutachtete mich mit müdem Blick. Ihre Haare waren ungepflegt, das Gesicht leichenblass und die Schatten unter ihren Augen tief. Sie sah schrecklich aus.
„Ich wollte nach dir sehen", gestand ich mit einem schwachen Lächeln. Die Frage, ob es ihr gut ginge, konnte ich mir wohl sparen. Raven nickte verstehend, widmete mir allerdings nicht all ihre Aufmerksamkeit. Stattdessen pulte sie an dem Saum ihres Pullovers.
Da sie nicht antwortete, entschied ich sie abzulenken und zeitgleich meine Neugierde zu stillen.
„Was ist Liebe für dich, Moon?" Sie zuckte ganz zu meinem Enttäuschen lediglich die Schultern. Sie wollte nicht mit mir reden, dies war offensichtlich.
„Soll ich dich alleine lassen?", erkundete ich mich deswegen, obschon es mir bereits klar war. Raven nickte stumm.
„Verstehe", murmelte ich. Selbstverständlich betrübte es mich ein bisschen, dass sie mich abwies. Ich verübelte es ihr keinesfalls. Selbst wenn sie mir mein Herz aus dem Leib riss und darauf herumtrampeln würde, würde ich ein Weg finden ihr zu verzeihen. Ich machte auf dem Absatz kehrt, doch ehe ich den Rückweg antreten konnte, hielt sie mich auf.
„Jona." Ihre Stimme war heiser, zitterte. Ich warf ihr einen erwartungsvollen Blick über die Schulter zu. Zitternd hoben sich ihre Mundwinkel, sie zwang sich ein Lächeln auf. Obwohl es sichtbar falsch war, beruhigte es mich gewissermaßen.
„Ich gebe nicht auf." Über ihre Lippe kam die Lüge, ihre Augen sprachen die Wahrheit. Ich deutete ihre Worte richtig und verabscheute mich selbst dafür, dass ich dennoch nickte. Mein Herz durchzog einen stechenden Schmerz.
„Leb wohl", flüsterte ich und richtete mein Blick nach vorne. Wie ironisch, dass ich ausgerechnet jene Worte wählte.
Meine Füße trugen mich fort, fort von ihr, meiner großen Liebe.
Eine stumme Träne bahnte sich den Weg über meine Wange.
Sie verstehen nicht den Strudel, der in mir tobt. Der blutrünstige, hoffnungslose Krieg, der in mir herrscht.
Die brennenden Kratzer, die weißen bis roten Linien auf meiner Haut – Erniedrigungen, jene ich auf meinen Armen verewigte. Sie alle erzählen von dem, was unter meiner Haut schlummert: Etwas, das mir sagt, dass ich nicht genug bin, weder für mich selbst, noch für diese Welt.
Besagte Erinnerung enthalten Worte, ganze Sätze. Geschichten, die davon erzählen, wie ich versuchte, zu vernichten, was mir Schmerzen zusetzt. Mein einziges und größtes Problem bin ich selbst.
Die roten Abdrücke auf meinem Hals – die Geschichte der Verlockung des Todes, jene so süß und zart erscheint. Ein trügerisches, verlogenes Bild, denn in Wirklichkeit schmeckt sie bitter und hart. Jedes Mal koste ich besagten Genuss, wenn meine Augen einen Moment zu lange an den Zuggleisen hängen bleiben.
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