Die roten Rosen wirkten auf der feuchten Erde schäbig, vor dem vom Regen dunkelgefärbten Grabstein. Das Bild widerte mich an, Raven widerte mich an. Sie hatte mich zerstört, mich erstochen, erstickt, ertränkt. In all den schlaflosen Nächten, in denen sie das Einzige in meinem Kopf gewesen war, ließ sie mich qualvoll sterben, immer und immer wieder. Dennoch konnte ich es ihr nicht verübeln. Ich verzieh ihr ohne mit der Wimper zu zucken.
Sie war immer unscheinbar gewesen, ihr Leid unter der Vergessenheit begraben. Jeder hatte sie angesehen und geurteilt. Niemand verstand, was in ihr vorging, weshalb sie ihr Schweigen kaum brach.
Ihr war es niemals gut ergangen, es gab lediglich Augenblicke, in denen es ihr gelungen war, ihr Leid zu verdrängen. Sie war einem ständigen Kampf ausgesetzt gewesen, den wir alle nicht hatten sehen können. Ihre schwarze Seele hatte unzählige Risse gehabt, ihre Haut etliche Narben.
Ihre soziale Angststörung und die schwerliegenden Depressionen hatten sie letztendlich umgebracht, ihr das letzte Fünkchen Hoffnung und Leben genommen. Ihre Trauer hatte das Messer geführt, hatte sie wie eine Marionette gesteuert. Sie war verblutet, jämmerlich verblutet. Raven hatte keinen ästhetischen Abschied, nicht ansatzweise.
Ich wischte mit dem Ärmel über meine Augen, ließ die Tränen versiegen, jene unmerklich meine Wangen hinuntergeronnen waren. Ich wandte mich vom Grabstein ab, ließ meine Moon zurück.
Meine Füße trugen mich zum naheliegenden Bahnhof. Ich wollte nach Hause, mich in meinen sicheren vier Wänden verkriechen und diese nie wieder verlassen.
Ich hielt in der Bewegung inne, als ich Aidan erblickte. Er sah mich nicht, realisierte sein Umfeld nicht. Er war zu einem gedankenlosen Zombie geworden, eine ruhelos umherwandelnde Seele, fest an die Hülle ihrer Leiche gefesselt.
Reue übermannte mich, stach wie Dornen in mein Herz. Er hatte niemals die Schuld getragen. Er musste leiden, weil ich mit meinem Selbsthass nicht klarkam. Ich war wahrlich grausam, ein Mensch, der viel zu viele Fehler begangen hatte.
Aidan stand abseits von den anderen Leuten, so wie ich auch. Erst vermutete ich, er würde zu abwesend sein, um es zu bemerken. Als der Zug losfuhr und er einen Schritt auf das Bahngleis zumachte, wurde es mir allerdings klar.
Ich hatte viele Fehler gemacht, doch heute werde ich keinen weiteren tun.
Der Entschluss setzte mich in Bewegung. Ich rannte, rannte zu ihm, meinem einzigen und allerbesten Freund.
„Aiden!", schrie ich. Mein Herz raste, das Adrenalin kochte in meinem Blut. Ich schlang die Arme um ihn, zog ihn unsanft zurück. Mein Körper durchzuckte Schmerzen als ich auf den Boden prallte.
Der Zug zischte lautstark an mir vorbei. Eine Träne brannte in meinem Gesicht, allerdings war ich glücklich. Aidan lag wohlbehalten in meinen Armen, wurde fest von mir gedrückt. Mir war gleichgültig, wie viele Augenpaare auf uns lagen, egal, was all die Leute von den beiden dachten, die auf dem Asphaltboden kuschelten.
„Weshalb tust du das?", vernahm ich seine belegte Stimme. Er klang erschöpft, er klang keineswegs wie er selbst. Er hatte sich verändert. „Ich bin nichts Wert, ich bin niemand."
Ich legte meine Stirn an Aidans, lächelte ihn mit aller Liebe an, die mein verkorkstes Herz noch besaß.
„Mir ist egal, wer oder was du bist, solange du für mich strahlst, solange du meine Sonne sein kannst. Mir ist gleichgültig für wen du niemand oder jemand bist, denn ich liebe dich so, wie du bist, Aiden."
Niemals hatte ich mich gefragt, wer oder was niemand war. Heute glaubte ich, die Antwort zu wissen. Viel zu früh für mein Alter, viel zu spät für sie – Raven. Niemand war ein gefallener Engel, ertrunken in der Schwärze, gefallen in der Vergessenheit. Raven war nicht bloß niemand gewesen, Raven war so viel mehr.
Niemand war Jemand.
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