Raven. Ihr Name wiederholte ich gedanklich in Endlosschleife, wie ein Mantra, nahezu wie eine Vergötterung, ein Anbeten jenes Namens. Es klang besessen, doch ich konnte meine Gedanken nicht aufhalten, die sich unaufhörlich um sie drehten.
Raven saß in der Reihe hinter mir, lauschte schweigend der heruntergeratterten Vorlesung einer Schülerin. Nach meinem Geschmack verbrachten wir bereits viel zu lange damit, der Reihe nach aus einem Buch zu zitieren. Unser Lehrer schien von Tag zu Tag fantasieloser zu werden, da er es vorzog seinen Unterricht mit keinerlei Kreativität zu gestalten.
Die monotone Zitierung des Mädchens fand ein Ende.
Raven war nun dran.
Im Gegensatz zu allen anderen Schülern, erwähnte der Lehrer ihren Namen nicht, dem Anschein nach hatte er ihn wie alle anderen vergessen. Stattdessen wandte er sich mit einem erwartungsvollen Blick an sie: „Miss?"
Ich drehte mich auf meinem Stuhl, drehte mich zu ihr um. Ihre Finger zitterten wie Espenlaub, ihr ganzer Körper bebte in einem rhythmischen Takt. Vereinzelte Haarsträhnen lagen wie ein Schleier vor ihrem Gesicht. Dennoch entgingen mir ihre nervösen Pupillen nicht, die hektisch umherzuckten. Schwermütig bewegte sich ihr Kehlkopf, kleine Schweißperlen glitzerten auf ihrer Stirn. Ihre Finger krallten sich sichtlich panisch in die Seiten des abgewetzten Buches, jenes offenbar mehrere Schulgenerationen überlebt hatte.
Der Lehrer seufzte theatralisch, somit zog er die Aufmerksamkeit der Schüler auf sich.
„Klappt die Bücher zu", wies er an, „die Stunde ist gleich vorbei." Ich sah ihn nicht an, weiterhin haftete meinen Blick auf ihr – Raven. Sie legte die Hand erleichtert auf ihr Schlüsselbein, schloss die Augen und atmete tief durch.
Ich erkannte ihre Qual, doch ich konnte sie nicht deuten.
Ich will rausgehen in den frischen Herbstwind, hier drin ist es so stickig, ich bekomme beinahe keine Luft.
Ich will atmen können.
*