Dreiundachtzig, vierundachtzig, fünfundachtzig, sechsundachtzig. Sechsundachtzig Koffer, die bisher auf dem Band vor mir entlanggefahren waren. Die meisten davon schwarz oder grau. Mein eigener, der als einer der ersten vorbeigerollt war, dagegen war grün wie eine Sommerwiese. Die Art von Grün, die ich in einer Großstadt wie dieser wahrscheinlich vergeblich suchen würde. Siebenundachtzig, achtundachtzig,...
Die einzigen Abwechslungen waren die stechend pinken Koffer dreier Mädchen. Sie waren gut zwei Jahre jünger und mindestens einen Kopf kleiner als ich. Zudem sahen ihre barbieähnlich geschminkten Gesichter aus, als wären sie direkt einer deutschen Karnevalssendung entsprungen. Zu dritt standen sie nun schon zehn Minuten neben der Bank, auf der ich mich niedergelassen hatte und kicherten um die Wette. Dabei sahen sie unentwegt zu einem jungen Mann, der anscheinend mit uns im Flugzeug gesessen hatte und nun etwa zehn Meter entfernt von den Kichererbsen auf seinen Koffer wartete. Allerdings sah es nicht so aus, als hätten sie große Chancen bei ihm. Er war mindestens zwanzig und sah – im Gegensatz zu den Mädchen zu meiner Rechten - weder kindlich noch schüchtern aus. Zweitens wurde er gerade herzlichst von einer kaum jüngeren Frau begrüßt. Die beiden lagen sich eng verschlungen in den Armen und er gab ihr einen Kuss auf die Stirn, während sie an seine Schulter gelehnt weinte. Es war ein schönes Bild (Aber lange nicht so gut wie die Gesichter der drei lebenden Schminkkoffer neben mir).
Ich wünschte, jemand würde mich so begrüßen. Jemand, den ich liebte. Jemand, mit dem die Zeit hier besser sein würde. Dabei weiß ich selbst nicht, was ich mit „besser" meine. Aufregender? Glücklicher? Einfach, nicht einsam zu sein? Es war wohl alles zusammen, denn plötzlich stiegen mir Tränen in die Augen und ich musste schlucken. So eine Kacke war das! Ich wollte das nicht mehr. Ich wollte nach Hause; nach Hause zu meiner Familie, zu meinen Freunden, sogar zu meiner Schule. Nichtsdestotrotz hatte ich mir vorgenommen, mich zusammenzureißen. Mir war auch immer klar gewesen, das es nicht einfach werden würde. Aber ich war ein Kämpfer. Und das würde ich beweisen!
Ich war so in Gedanken, dass ich nicht bemerkt hatte, wie sich jemand neben mich gesetzt hatte und mich besorgt ansah. Es war die junge Frau, die ich eben noch mit ihrem Freund beobachtet hatte. „Hey, was ist denn los? Kann ich dir helfen?", fragte sie in typisch-britischem Englisch. „Nein", stotterte ich, „es ist nur, ... ich bin für einen Schüleraustausch hergekommen, habe keine Ahnung, wo meine Gastfamilie ist und dazu auch noch Heimweh." Ich versuchte zu lächeln, um der Frau zu zeigen, dass ich schon alleine klar kommen würde. Es musste wirklich super komisch aussehen, wie ich da mit verheultem Gesicht allein auf einer Bank in der Millionenstadt London saß und versuchte, eine wildfremde Frau anzulächeln, nur um ihr einen Gefallen zu tun. Damit sie sich keine Sorgen machen musste. Es war lächerlich. Also gab ich es auf und beobachtete wieder die Leute, die vorbei liefen, als die Frau plötzlich fragte: „Kann es sein, dass du Olivia bist? Olivia aus Deutschland?" Ich nickte verwirrt. Wie kam es dazu, dass diese Fremde meinen Namen kannte? „Das ist ja toll! Dann brauche ich ja keine Angst mehr haben, dass ich dich in diesem Getümmel übersehe." Sie stellte sich als Isabelle Tyler vor. Tyler... das war der Nachname meiner Gastfamilie. Wenigstens so viel war hängen geblieben. Ich fragte sie, ob sie mich abholen sollte. „Ja. Ich habe meinen Eltern gesagt, ich würde dich gleich mitbringen, wenn ich herfahre, um Luke abzuholen. Na dann, komm mal mit! Ich hoffe, wir finden Platz für die zwei Koffer. Mein Auto ist nicht gerade das größte."
Nein. Das größte Auto war es nicht. Nachdem sich herausgestellt hatte, dass Isabelle vergessen hatte, die Einkäufe vom Vormittag aus dem Kofferraum zu räumen, saß ich nun zusammengequetscht neben zwei riesig wirkenden Einkaufstaschen auf der Rückbank und beobachtete die beiden anderen. Isabelle selbst war erst achtzehn, hatte sie mir erzählt. Also nur eineinhalb Jahre älter als ich. Sie war ungefähr 1,70m groß und weder sehr dünn noch sehr kräftig gebaut. Einfach schlank. Sie trug eine schwarze Jeans und gleichfarbige Ballerinas, die perfekt zu der weißen Bluse und dem dunkelblauen Blazer passten, den sie anhatte. Ihre braunen, glatten Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz hoch gebunden, der bei jedem Schritt lustig wippte. Die Sachen, die sie trug, lagen in England zurzeit anscheinend total im Trend. Das hatte ich allein in den zwanzig Minuten, die ich auf meiner Bank im Flughafen verbracht hatte, festgestellt. Luke dagegen schien eher seinen eigenen Style zu haben. Auch er trug enge, schwarze Jeans mit Hosenträgern, die ihm beim Laufen in den Kniekehlen baumelten. Dazu ein schlichtes schwarzes T-Shirt. Ein wenig konnte ich verstehen, warum die Mädchen am Flughafen so gekichert hatten. Und warum Isabelle so in ihn verliebt war. Er sah schon verdammt gut aus mit seinen blonden, halblangen Haaren, die ihm lässig in die Stirn fielen und der Sonnenbrille, die er an den Kragen seines T-Shirts geklemmt hatte.
Meine Gedanken schweiften wieder nach Hause. Seufzend sah ich aus dem Fenster. In der Ferne konnte ich die Themse im Abendrot glitzern sehen. Mir wurde klar, dass ich nicht immer das haben konnte, was gerade am weitesten weg war und beschloss, London eine Chance zu geben...
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Exchange
Teen FictionStell dir vor, du freust dich wie ein kleines Kind auf deinen Schüleraustausch - und merkst dann, dass all deine Vorstellungen Meilen von der Realität entfernt waren. Stell dir vor, du kommst in ein Land, in dem du niemanden kennst und dessen Sprach...