Fremde Erinnerungen

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Sie legte das Besteck zur Seite und sah zu ihm auf. In ihren Augen stand Besorgnis und Misstrauen. Vermutlich glaubte sie, er wolle sie aus der Villa hinauswerfen. Das Bild auf dem Mitarbeiterausweis wird ihr nicht gerecht, schoss es ihm durch den Kopf. Sie war hübsch, auf eine unaufdringliche, leise Art, die sich erst bei längerem Hinsehen offenbarte. Genau wie Felicity, die sich oft hinter ihrer Brille und den kurzen Röcken versteckte.

Er wandte den Blick ab und konzentrierte sich auf seine nächsten Worte. »Sind Sie bereit herauszufinden, wer Sie sind?«

Sie richtete sich auf. »Sie hatten Erfolg?«

Er nickte. »Ihr Name ist Cassandra Taylor ...«

»Cassie«, flüsterte sie.

»Erinnern Sie sich?«

»Nein, ich glaube, mir gefällt Cassie besser.« Sie lächelte verlegen.

»Sie arbeiten in der Forschungsabteilung von Star Pharmaceuticals.«

»Also keine Bankräuberin«, scherzte sie in Erinnerung an ihr Gespräch mit Diggle.

»Was?«, fragte Oliver verständnislos.

»Nichts. Ich habe mir schon Sorgen gemacht, dass ich vielleicht vom FBI gesucht werde.«

»Nein, ganz im Gegenteil. Sie sind eine ziemlich gute Wissenschaftlerin, haben Ihren Abschluss am MIT gemacht. Eine Menge Unternehmen haben Ihnen Angebote gemacht. Das von Queen Consolidated haben Sie abgelehnt.«

»Von wem?«

»Meiner Firma.«

»Oh.« Noch ein verlegenes Lächeln.

»Schon gut. Eigentlich ist es ja auch die Firma meiner Mutter. Aber das ist jetzt nicht wichtig ...« Er sagte wenig, wählte genau aus, was und was er nicht von ihrem Leben erzählte. Hielt sich an Details, die wichtig waren. Cassie hörte aufmerksam zu, während er von ihrem Leben sprach wie in einer Wochenschau. Kurz und informativ. Er konnte nicht umhin zu bemerken, wie sich ihre Augen trübten, als er von ihrer Familie sprach. Vater und Mutter waren bei einem Autounfall ums Leben gekommen, als sie neun war. Danach war sie im Waisenhaus oder bei Pflegeeltern aufgewachsen. Ein behütetes Zuhause, so wie er es gehabt hatte, hatte sie nie gekannt. Oder wie sie versuchte, das Erstaunen in ihren Augen zu verbergen, als er von ihrer Wohnung am Stadtrand erzählte. Es war eine Gegend, in der hauptsächlich Familien der Mittelklasse lebten. Ruhig und beschaulich. Umso mehr überraschte es ihn nun, dass er sie in den Glades gefunden hatte. Sie war in ihrer Wohnung als einzige Mieterin eingetragen, was darauf schließen ließ, dass sie nicht mit jemanden zusammenlebte. Ihre Augen wurden groß. Offensichtlich gab es einige Einzelheiten, die ihn nichts angingen. Er spürte ihre Verunsicherung und Unruhe und fühlte sich schlecht, weil er Intimes aus ihrem Leben ohne ihr Wissen in Erfahrung gebracht hatte.

Ihre Haltung versteifte sich, als sie sich in ihre undurchdringliche Hülle zurückzog.

Cassie stand mit ihrem Teller auf, ging zur Spüle hinüber, drehte den Hahn auf und begann mit dem Abwasch. Sorgfältig schrubbte sie die Teller, kehrte zum Tisch zurück, um die Gläser und das Besteck einzusammeln.

Oliver griff nach ihrem Handgelenk und hielt sie zurück. Das Besteck in ihrer Hand begann zu zittern. »Cassie ...«, sagte er leise. »Es tut mir leid.«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das muss es nicht. Sie wollten mir bloß helfen und sicher gehen, dass Sie keine Massenmörderin unter Ihrem Dach beherbergen. Es ist nur ... alles, was Sie gesagt haben ... Ich weiß nicht, ob das wirklich ich bin ... Nichts kommt mir bekannt vor ... Genauso gut könnte es das Leben einer völlig Fremden sein. Ich kann mich an nichts erinnern.« Donner grollte plötzlich in der Ferne.

Sie wollte sich aus seinem Griff befreien, doch er hielt sie weiter fest, erhob sich von seinem Stuhl und drehte sich zu ihr um. Und dann nahm er sie in den Arm. Cassie war so überrascht von der Geste, dass sie stolperte und erst recht gegen seine Brust fiel. Sie erstarrte. Ihre Hände ballten sich zu Fäusten, bereit, ihn von sich zu stoßen. Bis sie seine Hand an ihrem Rücken spürte. Wie sie sanft auf und ab glitt, über ihr Haar strich. Cassie ließ sich fallen und gab auf. Tränen liefen über ihre Wangen, als sie die Arme um seine Mitte schlang und den Kopf gegen seine Brust lehnte. Sie hatte alles verloren. Nicht nur ihre Erinnerung. Auch ihren Glauben an das Gute im Menschen. Die Wärme seines Körpers hüllte sie ein wie eine warme Decke. In seinen Armen fühlte sie sich sicher und geborgen. Er hatte sie gerettet und in seinem Haus aufgenommen, obwohl er sie nicht kannte.

»Ich weiß, wie es ist, nicht zu wissen, wer man ist«, flüsterte er und sein warmer Atem strich über ihren Nacken.

Sie konnte nicht antworten. Sie vergrub ihr Gesicht in seinem dunkelblauen Hemd und weinte leise.

»Sie können hier solange bleiben, wie Sie wollen.« Wieder donnerte es vor dem Fenster, diesmal näher.

»Danke«, flüsterte Cassie ehrlich.

»Sie sind hier immer willkommen«, sagte Oliver, ohne zu zögern. Das Geräusch beginnenden Regens erfüllte ihre Ohren. Es begann langsam und verwandelte sich schnell in einen wahren Wolkenbruch.

»Sie müssen müde sein«, vermutete er. Cassie nickte und er entließ sie aus seiner Umarmung. Die wohlige Wärme, die sein Körper ihr gespendet hatte, verschwand, als er sich endgültig von ihr löste. Sie vermisste dieses Gefühl sofort. Er begleitete sie aus der Küche durch die Eingangshalle zurück zu ihrem Zimmer. Der Regen, der gegen das Haus prasselte, erfüllte die Stille um sie herum.

Oliver ging den ganzen Weg neben ihr. Hatte er etwa Angst, dass sie sich wieder verlief? Oder spürte er, wie aufgewühlt sie nach ihrem Gespräch und der Umarmung war?

Vor ihrer Tür angekommen, drehte sie sich noch einmal zu ihm um. Er stand in der Mitte des Korridors, die Hände in den Hosentaschen, sein Gesicht halb im Schatten verborgen. Beim Anblick seiner Gestalt im Halbdunkel rührte sich etwas in ihrer Erinnerung. Eine Art Déjà-vu. Sie hatte ein ähnliches Bild schon einmal gesehen. Aber sie wusste nicht, wann und wo. Ob es eine echte Erinnerung war oder nur Einbildung.

»Werde ich irgendwann auch etwas über Sie erfahren, Oliver?«, fragte sie über das laute Klopfen ihres Herzens. »Sie wissen alles über mich, aber ich weiß gar nichts über Sie.«

Er machte einen Schritt auf sie zu. Im Licht der Wandbeleuchtung schimmerte sein Haar golden. Wie es sich wohl anfühlte, die Finger darin zu vergraben, während er sie küsste?

Cassie erschrak. Was war nur los mit ihr? Zum Glück konnte er im schummrigen Licht nicht erkennen, wie ihr Gesicht dunkelrot anlief. Himmel, schalt sie sich, du benimmst dich wie ein verknalltes Schulmädchen. In seiner Gegenwart spielten ihre Hormone völlig verrückt. Dabei hatte sie weitaus größere Probleme, um die sie sich kümmern sollte.

»Ich werde Ihnen alles sagen, was Sie wissen wollen«, sagte er und sie könnte schwören, Bedauern in seiner Stimme zu hören. »Aber nicht heute Abend. Es ist schon spät und Sie waren lange genug auf den Beinen. Sie sollten sich jetzt ausruhen.« Nur noch ein wenig länger wollte er die Neugier und Zuneigung in ihrem Blick genießen. Wenn sie erst einmal wusste, wer er war, dann würde sie ihn anders ansehen.

»In Ordnung, aber so leicht lasse ich Sie nicht davon kommen.«

Sein Mundwinkel zuckte und die Trübnis in seinen Augen verschwand. »Das hatte ich auch nicht angenommen.«

Cassie zuckte mit den Schultern. »Ist nur fair.«

Das elektrische Knistern, das bereits die Küche aufgeladen hatte, erfüllte nun den Korridor. Und es lag nicht an dem Gewitter, das vor den Fenstern tobte. Cassie hielt die Luft an. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals.

Seine blauen Augen lagen auf ihr, hielten sie gefangen und schienen bis auf den Grund ihrer Seele zu blicken. Sie konnte sich nicht abwenden, sie konnte es einfach nicht.

Wenn er sie jetzt ...

In diesem Moment läutete es an der Tür.

Oliver blinzelte und der Bann war gebrochen. Er wandte sich, murmelte eine Entschuldigung und lief den Korridor hinunter. Cassie stieß die Luft aus. Das war knapp gewesen.

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