Ich schiebe mir das letzte Stück meiner Thunfischpizza in den Mund und wische mir danach mit meiner Hand die übrig gebliebenen Krümel aus den Mundwinkeln. Die Pizzaschachtel zerknülle ich und werfe sie über meine Schulter nach hinten. Ich setze die Bierflasche an meine Lippen und trinke mit großen Schlucken bis sie leer ist. Mein Rülpser ist so laut, dass die alten Dame ihren Kopf schütteln und dieses Unbenehmen wahrscheinlich nachher sofort ihrer besten Freundin erzählen. Ich spucke angewidert auf die kaugummiübersähte Straße. Ein Pfiff und nur Sekunden später kommt meine Australian-Shepherd-Hündin Collie auf mich zugetrabt. Ich kraule sie hinter ihrem linken Ohr und gebe ihr ein wenig von meinem trockenen Brötchen. Ich streiche bedächtig über die Wunde an meinem Arm, welche die Impfspritze heute Morgen verursacht hatte. Die Ansage der Lautsprecher reißt mich aus meinen Gedanken. Gleis 10 - Einfahrt des ICE nach Houston. Bitte treten sie von der Bahnsteigkante zurück! Ich ziehe mir meinen Rucksack über die Schultern und renne zur Plattform, um noch pünktlich in den Zug einsteigen zu können. Hinter mir springt Collie hin und her und wedelt wie verrückt mit ihrem Schwanz. Der Zug hält an und die Türen öffnen sich. Gelassen schlendere ich zum nächstgelegenen Einstieg und stelle mich in die wartenden Menschenmassen. Der Zug hält an und wir bilden eine Gasse, durch welche die aussteigenden Menschen strömen. Vor mir versucht eine junge Frau verzweifelt, ihren viel zu großen Kinderwagen durch den schmalen Einstieg zu schieben. Ich dränge mich zu ihr und greife unter das Gestell. Ich hebe es hoch und trage den Kinderwagen vorsichtig über Spalte zwischen Zug und Bahnsteig. Die Frau nickt mir freundlich zu und lächelt mich dankbar an. Ich pfeife nach Collie. Sofort trabt sie zu mir und ich halte sie an ihrem Halsband fest, während wir einsteigen. Ich biege nach rechts ab und setze mich auf den nächstbesten Platz. Collie setzt sich zwischen meine Beine. Der Zug ist voll. Überall sind irgendwelche Menschen. Ich merke wie Collies Augen angespannt hin und her zucken und kraule sie beruhigend hinter ihrem linken Ohr. Trotzdem will sie sich nicht entspannen und fängt auf einmal auch noch an zu knurren. "Psst, Collie. Alles ist gut." Ich versuche, auf sie einzureden, aber nichts hilft. Die Türen schließen sich und der Zug setzt sich in Bewegung. Langsam wird Collie wieder ruhiger. Mir gegenüber klammert sich eine alte Frau an ihren Rollator und versucht gleichzeitig, sich an einer Stange festzuhalten. Ich stehe auf und ziehe Collie hinter mir her. “Entschuldigen Sie, wollen sie sich vielleicht setzen?” Sie hebt ihren Kopf, als hätte sie mich gehört, weiß aber nicht wo ich bin. “Das ist aber nett von Ihnen, junger Herr.” Ich helfe ihr, sich zu setzen und stelle mich dann vor den Einstieg. Plötzlich fängt Collie laut an zu bellen. Alle Leute starren uns an. “Collie, pscht, was ist denn nur los mit dir?” Sie knurrt und springt gegen die Tür. Ich halte sie zurück. “Collie – Aus!”, befehle ich ihr, aber sie nimmt mich gar nicht wahr. In ihren großen treuen Hundeaugen spiegelt sich blankes Entsetzen wieder. So hatte ich sie noch nie erlebt. Mit größter Kraft schaffe ich es, sie von der Tür wegzuziehen. Collie winselt immer noch. Nachdem ich sie wieder einigermaßen unter Kontrolle habe, nehme ich meinen Rucksack von meiner Schulter und stelle ihn vor mir auf den Boden. Ich mache den Reisverschluss auf und hole meine Plastikwasserflasche raus. Ich drehe sie auf und drücke sie dabei ein wenig zusammen, sodass Dellen bleiben. Ich setze die Flasche an meinen Mund und trinke mit hastigen Schlucken. Collie, die mich wegen des Geräusches der knisternden Plastikflasche neugierig anschaut, versucht nun an mir hochzuspringen. “Collie ist ja gut”, lache ich und gieße ein wenig in eine kleine Schüssel, die ich immer bei mir trag. Ihre rosafarbene Zunge taucht in das kühle Nass und ich höre sie laut schleckern. Ich schraube die Flasche wieder zu und verstaue sie im Innern meines Rucksackes. Ich sehe durch das Durchsichtige in der Tür des Einstiegs nach draußen. Alles was ich erkennen kann, sind Felder, die noch mit Plastikplanen bedeckt sind. Die Bauern hoffen wahrscheinlich, dass sie so früher anfangen können zu ernten, um noch mehr Geld zu verdienen. Ich schüttle unverständlich meinen Kopf. Collie hatte sich mittlerweile an meinen Füßen zusammengerollt, wobei ihr Kopf auf ihren Pfoten lag. Dabei war jedoch ihr rechtes Ohr umgeknickt. Ich hocke mich hin und richte es ihr wieder. Beim wieder-Aufstehen merke ich es. Etwas Nasses. An meinem Rücken. Mit einer bösen Vorahnung setze ich meinen Rucksack auf dem Boden ab. Was ich dann sehe, bestätigt meine Befürchtung. Mein ganzer Rucksack ist durchnässt. Von oben bis unten ist nichts mehr trocken. Ich fluche vor mich hin und suche in dem Rucksack nach meiner Plastikflasche, aus der das Wasser ausgelaufen sein muss. Doch soviel ich auch suche, ich finde sie nicht mehr. Sie ist verschwunden. Ich überlege fieberhaft, wo ich sie verloren haben könnte, aber mir fällt partout nichts ein. Es ist, als wären sie nie da gewesen. Mir wird heiß und kalt zugleich als ich mich erinnere, dass ich mir meine Kopfhörer heute morgen eingepackt hatte. Ich durchwühle meinen ganzen Rucksack aber ich finde ihn nicht. Auch mein Handy ist plötzlich weg. Dabei war ich mir hundertprozent sicher, dass ich es in die linke Seitentasche gesteckt hatte. Plötzlich ruckelt der Zug. Ein Baby fängt an zu schreien. Die alte Frau hält ihre Handtasche fest und schaut panisch umher. Doch nach kurzer Zeit hört das Ruckeln auf und der Zug fährt ganz normal weiter. Ich mache mich locker und merke jetzt erst, dass ich mich vor Aufregung ganz angespannt hatte. Der Zug fährt in den nächsten Bahnhof ein und Collie zieht mich wieder in Richtung Ausstieg. Die Türen öffnen sich und Collie versucht rauszuspringen. Ich kann mir gerade noch meinen Rucksack schnappen, bevor sie losläuft und ich versuche, hinterher zu kommen. Kurz vor der Treppe schaffe ich es dann doch noch schließlich, sie zum Stoppen zu bringen. Ich setze grad zu einer Moralpredigt an, als es auf einmal laut kracht. Ich werde umgeworfen und lege schützend meine Arme auf meinen Kopf. Plötzlich schlagen mir Hitzewellen entgegen. Der ganze Zug explodiert. Meine ausgestreckte Hand greift nach etwas weichem Haarigem und ich ziehe es an mich heran. Ich kann nur hoffen, dass es sich dabei um Collie handelt. Ich drücke es eng an mich und versuche, mein äußeres Umfeld abzuschalten. Den Schmerz. Die Hitze. Aber vor allem das Gesehene. Die verkohlten Leichen. Die leeren Augenhöhlen. Ich stütze mich mit meinem Ellenbogen auf dem Asphalt ab und lasse meinen Blick über das verwüstete Bahnhofsgelände gleiten. Die wenigen Dinge, die überhaupt noch da stehen, sind fast vollständig verbrannt und sehen aus, als wenn sie gleich zusammenbrechen würden. Ich rappel mich auf und suche mit meinen Augen forschend nach Collie. Ein leises 'WUFF' ertönt von meinem nackten linken Fuß, an dem ich vorhin noch nagelneue Turnschuhe getragen hatte. Verwirrt hebe ich Collie hoch und schaue besorgt, ob sie sich verletzt hat. Glücklicherweise hat sie nur ein paar kleinere Wunden. Ich versuche loszulaufen, doch sobald ich mein Gewicht von meinem linken auf meinen rechten Fuß verlagere, schreie ich vor Schmerz auf. Ich sacke nach unten auf den fleckenübersähten Boden und umklammere meinen schmerzenden Fuß. Ich halte Ausschau nach etwas, womit ich meinen Fuß stützen kann und finde schließlich ein kleines, längliches Holzstück, welches ich mir mit einem gefundenen Band an meinen Fuß binde. Ich richte mich wieder auf und humpele los in Richtung Ausgang. Collie folgt mir und so bewegen wir uns langsam weg von dem noch immer brennendem Zug. Wir sind fast an der Treppe angelangt, als Collie vor mir stehen bleibt. Ich muss abrupt stoppen und versuche, mein Gleichgewicht wieder zu finden, um nicht über Collie zu fallen. Der Rauch vor mir ist dick und trüb, aber dennoch erkenne ich etwas. Oder eher jemanden. Aus dem Rauch tritt ein Mädchen, das etwa so alt ist wie ich, heraus. Sie streicht sich durch ihre naturroten Haare und wirft sie nach hinten. Ich kann meinen Blick einfach nicht mehr von ihren wunderschönen grünen Augen wenden und trete einen Schritt auf sie zu. Erst jetzt bemerkt sie mich und ihre Augen werden groß. Erschrocken weicht sie zurück, dreht sich um und rennt dorthin, wo sie herkommen war. Meine Beine setzen sich in Bewegung und ich laufe ihr hinterher.
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