Chapter 5 - Emelie

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Ich drehe mich um und renne los. Ich muss es versuchen, alles zu vergessen. Ich renne noch ein paar Meter, dann ist der Sauerstoff um mich herum aufgebraucht. Ich huste und sinke auf den Boden. Ich schließe meine Augen. Bilder werden unfreiwillig in mein Gedächtnis gerufen. Ich versuche, sie wegzuschieben, aber ich kriege sie nicht aus meinem Kopf.

Ich lief die Straße entlang, welche mit Ahornbäumen gesäumt war. Die Playlist meines Handy spielte gerade einen Titel von Birdy und ich summte mit. An der Haltestelle vor meiner Schule stieg ich aus und ging schnellen Schrittes zur Eingangstür. Dort blieb ich wartend stehen. Ich überprüfte in dem schwarzen Handydisplay mein Makeup und zog mit dem Lippenstift meine Konturen nach. Ein roter Porsche kam mit quietschenden Reifen vor mir zum Stehen und ein gutaussehender junger Mann stieg aus. Lässig schlenderte ich auf ihn zu, umarmte ihn und gab ihm ein Küsschen auf seine Backe. Er reagierte jedoch stürmischer, hob mich hoch und küsste mich inniglich. Ich ließ es geschehen und hakte mich danach bei ihm ein. Zusammen gingen wir durch die Eingangstür, begleitet von den Blicken der neidischen Mädchen. Robin, mein Freund, ist offiziell der heißeste Junge an der Uni und fast jedes Mädchen hier würde wohl gerne mit ihm zusammen sein. Wir begaben uns zum Hörsaal und setzten uns auf unsere Plätze in der hintersten Reihe. Danach folgten langweilige Semesterwochenstunden sowohl in Physik als auch in Biologie und Chemie. Kurz vor Ende des letzten Blockes hielt ich es vor Langeweile nicht mehr aus. Ich meldete mich und fragte, ob ich auf Toilette dürfte. Unser Dozent nickte meine Bitte ab, sodass ich durch die Tür auf den Flur trat und zur Toilette lief. Außer mir war niemand dort. Ich wusch meine Hände mit einer nach Pfirsich riechenden Flüssigseife und trocknete sie mit Papierhandtüchern ab. Ich schaute in den Spiegel und begutachtete meine Frisur. Kurz entschlossen nahm ich das Zopfgummi aus meinen Haaren und ließ sie locker auf meine Schultern fallen. Meine Augen schweiften über den Waschbeckenrand, wo eben noch die Seife stand. Dort prangte jetzt ein kahler Fleck. Auch dort, wo eben noch der Mülleimer stand, war auf einmal nichts mehr. Verwirrt öffnete ich die Tür und trat wieder auf den Flur. Ich stolperte und fiel der Länge nach hin. Unsanft schlug ich auf dem Boden auf. Dann wurde mir schwarz vor Augen.

Ich kam wieder zu mir. Meine Augenlider öffneten sich. Auf mir lag etwas Schweres. Ich richtete mich langsam auf. Dann schrie ich. Auf mir lag ein toter Mensch. Ich stieß den leblosen Körper von mir weg, stand auf und strich hektisch über meine Baumwollkleid, als könnte ich den Kontakt mit der Leiche ausbürsten. Stockend drehte ich mich einmal im Kreis. Um mich herum war der ganze Boden mit toten Körpern bedeckt. Plötzlich schoss mir ein Gedanke durch den Kopf. 'Wo ist Robin?' Ich stürmte los. Versuchte, nicht über die Leichen zu fallen. Ich riss die Tür des Biologiesaals auf. Dort erwartete mich das gleiche Bild wie auf dem Flur. Überall auf dem Boden waren tote Menschen. Ich bahnte mir einen Weg zu meinem Platz, der gleich neben Robins war. Geschockt stand ich dann da. Sein Kopf war auf dem Tisch auf geknallt und Blut strömte aus seiner Wunde. Ich drehte mich um. Mir war übel. Ich schaffte es gerade noch so zum Mülleimer, bis ich mich übergab. Ich griff zum Tafellappen, der komischerweise nicht, wie sonst immer, mit Kreidepartikeln übersät war und wischte meinen Mund damit ab. Danach ging ich wieder zu meinem Sitzplatz, dieses Mal jedoch, ohne auf die Leichen zu achten. Ich angelte meine Tasche, meine Softshelljacke war irgendwie verschwunden, und rannte raus. Tränen stiegen mir in die Augen. Im Laufen wischte ich sie weg und warf mir meine Ledertasche über die Schulter. Ich stieß die schwere Eingangstür, die ich heute Morgen unvorbereitet geöffnet hatte, nichts ahnend, was mich noch erwarten würde, auf. Draußen blieb ich kurz stehen und sog die frische Luft in meine Lunge. Ich verschränkte die Arme vor meiner Brust, um dem kalten Wind zu trotzen. Dabei merkte ich, wie eine warme Flüssigkeit an meinem linken Handgelenk herunter tropfte. 'Mist', fluchte ich innerlich, riss ein Stück von dem Stoff meines Kleides heraus, und presste es auf meine Wunde der Impfung, aus der das Blut quoll. Ich war verzweifelt. 'Wo sollte ich denn jetzt hin?' Mir lief ein kalter Schauer über meinen Rücken, als mir bewusst wurde, dass ich nicht wusste, was mit meiner Familie passiert war. Ich sackte zusammen und kugelte mich heulend ein. Ich weiß nicht, wie lange ich da so lag, aber irgendwann beschloss ich, loszulaufen. Kurz überlegte ich, nach Hause zu gehen, aber in meinem Inneren wusste ich, dass ich das, was ich dort sehen würde, nie vergessen und vor allem nie verkraften würde. Ich musste stark bleiben. Mein Vater hatte mir immer eingetrichtert, dass ich kämpfen sollte, egal was auch passiert. Und das wollte ich tun. Ich wollte kämpfen. Überleben, meiner Familie wegen.

Bei der Erinnerung an Mum, Dad und Lucy steigen mir schon wieder Tränen in die Augen. Mit dem Saum meines Kleides trockne ich mein Gesicht, stehe auf und will weiterlaufen. Plötzlich greift eine Hand nach meiner Schulter und dreht mich um. Ich blicke in die braunen Augen jenes fremden Jungens, den ich eben schon gesehen hab. Er starrt mich an und weiß anscheinend auch nicht, was er sagen soll. Ich reiße mich von seiner Hand los und erwäge es, mich von ihm abzuwenden und weiter zu gehen. Aber irgendetwas an ihm fesselt mich. Vielleicht sind es seine dunkelbraunen Augen oder seine vom Wind zerzausten Haare. Ich weiß es nicht. Aber ich bleibe stehen. Er macht einen Schritt auf mich zu. Ich weiche zurück und blicke ihn skeptisch an. „Ähm... Hallo, ich heiße Aspen.“ Seine Stimme zittert, als sei er aufgeregt. Ich beachte seine ausgestreckte Hand nicht und antworte ihm mit fester Stimme. „Hey, ich bin Emelie. Weißt du zufällig, was hier grad passiert ist?“ Meine vorgetäuschte Gelassenheit scheint ihn zu überraschen, weshalb er die ersten Sekunden mit offenem Mund da steht. Dann fasst er sich jedoch. „Nein, ich bin in einem Zug gefahren, der dann plötzlich explodiert ist. Hätte Collie, meine Hündin, mich nicht weg gezerrt, würde ich jetzt vermutlich nicht hier stehen.“ Hinter ihm erscheint eine mittelgroße wuschelige Hündin, die mir bis jetzt noch gar nicht aufgefallen ist. Ich hocke mich hin und sie kommt auf mich zu getapst. Collie beschnuppert meine ausgestreckte Hand und leckt sie ab. Ich lache und kraule sie noch kurz in ihrem Nacken, bevor ich wieder aufstehe. Aspen schaut mir wieder in meine Augen und sagt nichts. Ich runzle meine Stirn, ziehe meine linke Augenbraue hoch und schaue ihn fragend an. „Und was machen wir jetzt?“, frage ich ihn selbstsicher. Aspen wendet sich wortlos zur Treppe und beginnt, die Stufen in die Unterführung zu erklimmen. Widerstandslos folge ich ihm. Er biegt in der Unterführung rechts ab und geht eine Treppe hoch. Ich beeile mich und nehme immer 2 Treppenstufen auf einmal. Wir befinden uns im Rose Garden, einem wunderschönen begrünten Park mit massig vielen Rosensträuchern. Die Idylle raubt mir fast den Atem. Mit meinen Augen suche ich den Park nach Aspen ab. Dann sehe ich ihn. Er rennt zu der Ruine eines Hauses, am Rande des Parkes. Voller Angst, was mich erwartet, laufe ich ihm hinterher. Als ich ankomme, ist er gerade dabei, einige Holzbalken zur Seite zu schieben. Ich will ihn fragen, wieso er das macht, doch bevor ich anfangen kann, meine Frage zu stellen, höre ich Hilferufe. Die Stimme eines kleinen Mädchens, mitten aus dem Trümmerhaufen. „Hilfe! Hilfe! Bitte helft mir!“ Ihr Schluchzen erstickt fast ihre Stimme. „Bitte, schnell! Mein Opa. Ein Ziegel hat seinen Kopf getroffen. Bitte, er sagt nichts mehr!“ Sie bricht weinend zusammen. Ich packe ein Stein nach dem anderen und werfe ihn weg. Nach ein paar Minuten, die mir wie eine Ewigkeit vorkommen, sind Aspen und ich bis zu ihr vorgedrungen. Aspen hebt sie vorsichtig hoch und drückt sie mir in die Arme. Dann klettert er noch weiter hinein, um ihrem Großvater zu helfen. Besorgt beobachte ich ihn. Mein Blick bleibt argwöhnisch an den Dachbalken hängen und ich bete inständig, dass sie nicht zusammenbrechen. Das kleine Mädchen klammert sich eng an mich und ich versuche, es zu trösten. „Pscht, alles wird wieder gut. Wie heißt du denn eigentlich?“ Ich lächle sie zaghaft an. Sie schaut mir in die Augen und antwortet mit zittriger Stimme: „Ich heiße Maddie.“ Ich wische die Tränen aus ihren Augenwinkel und hebe sie hoch auf meinen Arm. Ich sehe, wie Aspen aus den Trümmern steigt. Alleine. Behutsam streichele ich ihren Rücken und entferne mich von der Ruine. Maddie ist mittlerweile an meiner Schulter eingeschlafen.

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