Chapter 6 - Claire

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Ich wache auf, weil ich ein Geräusch die Stille durchdringen höre. Meine Muskeln verkrampfen sich und mein Herz setzt einen Schlag aus. Langsam erwacht mein Körper wieder. Eine Gänsehaut breitet sich auf meinem Körper aus. Ich spüre einen Schmerz in meiner Wange aufflackern und finde Kraft, meine Augen langsam zu öffnen. Mein Gehirn fühlt sich wie in Watte gepackt an, weshalb meine Gedanken nur wirr in meinem Kopf umherirren als meine Augenlider sich öffnen. Zu meiner Überraschung dämmert es gerade und meine Augen brauchen einen Moment, um sich auf die Dunkelheit einzustellen. Ich liege noch immer zwischen dem kleinen Mädchen und anderen Menschen. Von allen Seiten blicken mich starre Augen an und ein Zittern durchfährt mich. Wieso sind alle tot? Wieso sind meine fast alle meiner Klamotten weg? Wieso ist es so still? Wieso haben plötzlich alle gehustet? Wieso hat sich alles um mich herum aufgelöst? Aber die schlimmste Frage, die mir durch den Kopf schwirrt ist: Warum bin ich nicht tot? Ich versuche klar zu denken, aber mein Verstand weigert sich, die Situation zu realisieren. Ich beginne meine Finger zu strecken, sie fühlen sich ungewohnt alt und verkrustet an. Mein Gleichgewichtssinn ist noch nicht so weit gestärkt, dass ich mir zutraue, in der Lage zu sein, aufzustehen. Trotzdem versuche ich meine Finger auf dem Boden abzustützen und meinen Körper zumindest in die Sitzlage zu bewegen. Um mich herum liegen jede Menge Äpfel und anderes Obst. Mit einem Mal bekomme ich einen Heißhunger und stürze mich auf den nächstbesten Apfel, der mir unversehrt scheint. Schon bald habe ich den Rest meiner Einkäufe verspeist und meinem Gehirn scheint die Nervennahrung auch nicht geschadet zu haben, denn ich kann wieder besser denken. Ich lausche nach dem anderen Geräusch, wodurch ich aufgewacht war, höre aber nun nichts mehr. Ich muss jemand Lebenden finden. Ich hole tief Luft und stehe auf. Meine Beine geben direkt wieder nach, kaum das ich mich einmal hoch gehievt habe. Vor Anstrengung keuche ich laut auf und meine Motivation sinkt mit jedem verzweifelten Versuch, endlich zu stehen. Kaum, dass ich auf meinen wackligen Beinen stehe, beginne ich zu würgen. Um mich herum ein Meer aus Leichen, starren Augen, weißer Haut. Und Dreck. Viel Dreck. Ich schlucke geschockt und mache einen Schritt vorwärts. So schnell wie möglich raus hier. Weg hier. Nach Hause zu meiner Familie. Ihnen wird es doch gut gehen? Panik packt mich und ich schlängle mich schnellstmöglich zwischen den toten Körpern hindurch. Ich stolpre über kalte Arme und schlaffe Füße, aber ich will nur verschwinden. Mein schnelles Gehen wird zu einem ängstlichen Rennen und meine Beine tragen mich raus aus der Straße. Aber an der Kreuzung erwartet mich nichts anderes. Zu allen Seiten Schutt und Tote. Ich schreie panisch auf und sprinte den Weg nach Hause. Tränen laufen mir über das Gesicht. Ich schluchze heftig und die Tränen verschlechtern meine Sicht. Irgendwann zwischen dem Supermarkt und meinem Haus breche ich weinend auf einem kleinen leichenfreien Fleck zusammen. Was ist, wenn ich die einzige Überlebende bin? Ich will das nicht. Ich will tot sein. Meine Finger tasten nach irgendeinem Gegenstand, mit dem ich die Situation beenden kann, stoßen aber an allen Seiten nur an nackte Körperteile. Ich friere, zittere und ich bin allein. So allein, wie nie zuvor. Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist, bis ich mich wieder aufrapple und weiter in Richtung unserer Wohnung taumele. Aber will ich wirklich sehen, was mich dort erwartet? Will ich wirklich wissen, was passiert ist? Will ich meine tote Familie sehen? Obwohl die Lage immer aussichtsloser wird, klammere ich mich an die Hoffnung, dass sie auch noch am Leben sind, meine Mum, mein Dad und mein kleiner nerviger Bruder. Ich erreiche den Block. Meine Finger hängen schlaff an meinen Seiten und es schnürt mir die Kehle zu, zu sehen, dass auch unser Haus zerstört ist. Ich bleibe stocksteif stehen und meine Augen werden starr. Ich kann mich nicht mehr bewegen, ich kann nicht mehr atmen, nicht weiterleben. Denn vor unserer Haustür liegt eine kleine Person, deren Statur ich nur zu gut kenne. Es ist Collin. Ich renne zu dem kleinen Körper, der zusammengerollt da liegt. Ohne Scheu rüttle ich an seinen kleinen Schultern. Es ist mir egal, dass ich mit wunden Knien vor ihm hocke, er muss sich bewegen, muss atmen. „Collin, wach doch auf, bitte bewege dich“, meine Worte gehen in ein Schluchzen über. Meine Tränen scheinen mich zu ersticken. Alle Trauer der Welt liegt in diesem Moment auf meinen Schultern. Ich schreie und kreische und weine. Ich drücke den kalten Körper fest an mich, aber er ist tot. Mein kleiner Bruder ist tot. Ich bemerke die sich nähernden Schritte nicht. Ich bemerke die Stimme nicht, die näher kommt. Ich bemerke die Arme nicht, die meine Schulter berühren und mich von ihm weg zerren. Ich bohre meine Fingernägel tief in mein Fleisch und kann nichts anderes tun, als zu weinen.

The oil disasterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt