Chapter 8 - Charles

9 2 0
                                    

Geräusche schrecken mich auf. Ich sitze mit angezogenen Beinen zwischen Schutt und Leichen. Ich habe es nicht verhindert und nun ist es zu spät. Ich hätte etwas tun müssen. Irgendetwas. Ich höre Schritte. Ich murmle vor mich hin, wieso ich mich gerettet habe. Ich hätte zwischen ihnen liegen müssen. Genauso tot, wie die anderen. Die Schritte gehen an mir vorüber, ohne mein Murmeln zu vernehmen und ich zitterte bei dem Gedanken daran, wer das wohl sein könnte. Einer der Terroristen? Oder doch nur ein zufälliger Überlebender? Ich stehe auf, drücke meinen Baumwollrucksack fest gegen meine Brust und lasse meine Augen über die Straße schweifen. Ein Mann, um die 30, geht über die Straße. Er sieht muskulös aus und scheint ein festes Ziel im Auge zu haben. Stolpernd versuche ich ihm leise zu folgen und verstecke mich hinter Trümmern und Schutt. Ich höre ein Weinen, aber der Mann ist es nicht. Ein Schauer durchfährt mich. Noch jemand, der überlebt hat? Der Mann geht zu einem Mädchen, sie umarmt einen kleinen Körper. Ein Kind. Der Mann zieht sie vorsichtig von dem Jungen weg und zerrt sie auf die andere Straßenseite, wo weniger Tote liegen. Ich hätte es verhindern können. Ich taumele vorsichtig auf die beiden zu, sie scheinen keine Gefahr zu sein. Der Mann dreht sich mit gerunzelter Stirn zu mir um, atmet einmal tief durch und bedeutet mir mit einer Handbewegung, ihm zu helfen. Ich greife unsicher nach dem rechten Arm des Mädchens. Sie kreischt nun laut auf und schlägt um sich, aber der Mann schiebt mich weg und legt seine Hände wie Schraubstöcke um ihren Körper. Ihre Stimme wird zu einem Schluchzen. Der Mann beginnt beruhigend auf sie einzusprechen und tatsächlich scheinen seine warmen Worte Wirkung zu zeigen, denn sie schnieft noch einmal und die Tränen in ihren Augen versiegen. Sie trocknet sich mit den Händen die Wangen und wischt die salzige Flüssigkeit an ihren Beinen ab. Sie steht dort nur in Baumwollunterwäsche, da sich das ganze Polyesterzeug aufgelöst hatte und auch der Mann sah leicht bekleidet aus. Ihre Haut ist von einer dicken Gänsehaut überzogen und kaum dass sie sich beruhigt hat, wandern ihre Blicke auf der Suche nach Klamotten umher. Nicht alle Menschen haben Polyester getragen, denn einige der Leichen sind noch vollständig angezogen. Ich sehe ihrem Blick an, dass es ihr unwohl ist, die Leichen zu berühren und sie zu entkleiden. Ihr Blick fällt auf mich und ich zucke innerlich zusammen, krame aber mit zitternden Fingern in meinem Rucksack umher und reiche ihr eine Strickjacke, die ihr ungefähr bis zu den Knien hängt. Als sie in die langen Ärmel schlüpft, fasst sie sich langsam wieder und murmelt: „Ich bin Claire und Sie beide?“. „Bryan“, seine Stimme klingt fest und sicher, als er ihre Hand ergreift. Beide schauen mich erwartungsvoll an, doch meine Kehle schnürt sich zu. Was ist, wenn durch meinen Namen wissen, dass ich Erdölexperte bin und dieses Unglück hätte verhindern können? Ich schüttle meine Gedanken ab, räuspre mich einmal und bringe ein einigermaßen deutliches „Charles“ raus. Claire rutscht der eine Ärmel von der Schulter und mein Blick erfasst eine Entzündung am Oberarm. Die eine Stelle ist dick und gerötet und bildet sich um einen kleinen roten Punkt. Die Impfung! Es gibt also doch keine andere Chance, dass das Gas an Wirkung verliert. Ihre Augen weiten sich, als Claire meinen Blick bemerkt und auch Bryan mustert mich plötzlich misstrauisch. „Was ist mit dem dicken Arm? Warum starrst du auf die Impfung?“, Bryan zieht seine Augenbrauen zusammen, „du weißt mehr als du sagst, was ist mit der Impfung.“ Er packt meine Schultern und rüttelt mich durch. „Sprich! Was weißt du? Was ist passiert?“ Seine Aggressivität macht mir Angst und ich gebe schnell klein bei. Seine Arme sind in die Hüften gestemmt, als ich beginne zu sprechen: „Die Impfung ist der Grund, warum wir überlebt haben.“ Seine Muskeln spannen sich an und Blut steigt in seinen Kopf. Ich nehme die Hände schützend vor meinen Körper: „Ist ja gut… Im Iran wurde ein Gas entwickelt, das Erdöl auflöst. Es ist nur… Es ist außerdem höchst giftig für den Menschen. Die Tetanusimpfung bildet einen Antikörper im Blut, sodass das Gas den Körper nicht schädigen kann.“ Meine Antwort ist zufriedenstellend, denn die beiden verstehen die Situation langsam. Dann kommt allerdings auch der Gedanke in ihnen auf, woher ich das weiß. Bryans Miene wechselt von nachdenklich zu verstehend und er drückt meinen Körper gegen eine Hauswand. Mein Atem beschleunigt sich.“Du wusstest es vorher“, faucht er und hält mich weiterhin an die kalte Wand gedrückt. Abrupt lässt er mich los und ich falle vorne über auf den Boden. Sein Kiefer ist angespannt und er steigt zwischen Leichen und Dreck davon. Claire folgt ihm ohne zu zögern und ich rappel mich ebenfalls schnell auf, um den Anschluss nicht zu verpassen. Als es dämmert erblicken wir am Ende der Stadt schon die sanften Hügel, die uns zu dem Dorf führen sollen, wo Bryans Meinung nach die besten Überlebenschancen bestehen. Wir haben kaum geredet und die Dunkelheit senkt sich wie ein Schleier über die Stadt. Ich friere und mein Mund ist ausgetrocknet von dem langen Marsch. Vor uns tut sich eine Ruine auf und die verbliebenen Dachbalken knarzen im Wind. Claire lässt sich ausgelaugt auf einen Stein fallen. Über ihr wackelt ein Balken gefährlich. Sie schaut kurz auf, aber seufzt nur ausgelaugt. Sekunden der Stille vergehen. Plötzlich kommt ein Windstoß und der Balken verliert an Sicherheit. Er fällt ohne Vorwarnung direkt auf sie herunter. Claire schreit und ich schließe die Augen, um diesen Anblick nicht ertragen zu müssen. Nach einem lauten Knall wird es still. Überrascht sehe ich als ich die Augen wieder öffne, dass nicht Claire unter dem Holzstamm liegt. Bryan muss sich vor sie geworfen haben. Sein Kopf lugt unter dem brüchigen Holz hervor. Mitten in jeder Menge Blut liegt er. Ich wende den Blick ab und gehe zu Claire, die unversehrt neben ihm liegt. Sie blickt starr auf das Blut. „Ich bin schuld an seinem Tod“, wispert sie dabei immer wieder wie ein Mantra. Mit den Worten „Bryan hätte es gewollt ziehe ich Claire hoch und schleppe sie weiter; den Weg, den er uns gezeigt hat. Trauer überwältigt mich, obwohl ich diesen Mann kaum kannte. Ich drehe mich noch einmal um. Doch statt des Hauses bleibt mein Blick an etwas anderem hängen. Da ist Licht. Eine Kerze in der Dämmerung. Und dann beginnen wir zu rufen und zu winken und Hoffnung macht sich in mir breit.

Du hast das Ende der veröffentlichten Teile erreicht.

⏰ Letzte Aktualisierung: Apr 22, 2014 ⏰

Füge diese Geschichte zu deiner Bibliothek hinzu, um über neue Kapitel informiert zu werden!

The oil disasterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt