Chapter 2 - Claire

17 3 1
                                    

Seine Augen öffnen sich. Das Gefühl ist da. Es ist soweit. Nun kann es niemand mehr verhindern. Zum wiederholten Mal greift seine zittrige Hand nach der Spritze auf dem Tablett neben dem Bett. Er atmet einmal röchelnd und sticht die lange Nadel tief in seinen linken Arm. Ihm tanzen schwarze Punkte vor den Augen und der Plastikwecker auf seinem Tisch verschwimmt. Ohne zu zögern drückt er den Kolben tief hinunter. Die kalte Flüssigkeit zieht in seine Muskeln und sein Arm wird taub. Seine Sicht kippt. Die Spritze fällt zu Boden und der letzte Tropfen der Chemikalie löst sich von der Spitze der Nadel und sinkt in den weißen Polyesterteppich. Seine rechte Hand greift nachdem Plastikbecher und er nimmt einen tiefen Schluck des Biers. Die Schuldgefühle überwältigen ihn, kurz bevor er das Bewusstsein verliert.

Ein Ticken reißt mich aus meinem Schlaf. Das durchdringende Geräusch wird mit jedem „Tick“ lauter und meine Ohren fühlen sich an, als würde mein Trommelfell gleich platzen. Genervt presse ich meine Handfläche gegen meine Ohren und öffne widerwillig die Augen. Ich blinzle gegen das helle Licht und so langsam kann ich wieder Umrisse erkennen. Am Rande meines Bettes sitzt mein kleiner Bruder Collin und hält mir meinen super teuren Wecken-garantiert-Wecker direkt ans Ohr. Ich kann mich kaum beherrschen, nicht mit der Hand auszuholen, um den Wecker zum Schweigen zu bringen. Mürrisch stehe ich auf und ignoriere Collins fröhliches Geplapper, bevor ich vollständig die Kontrolle verliere. Ich zerre am Henkel meines neuen Kleiderschranks, während ich noch immer halb blind auf meinem Schreibtisch zwischen dem Schulkram nach meinem Handy taste. Das helle Display leuchtet mir unerbittlich entgegen. 6:52 Uhr. Collin lässt sich demonstrativ auf einen meiner roten Plastiksessel fallen und sein Blick bleibt wie immer an meiner großen Kunstglaswand hängen. Die Sonne erscheint gerade zwischen den beiden Hochhäusern gegenüber und wirft ein angenehmes Leuchten in mein Zimmer. Unser Apartment liegt im 11. Stock eines Hochhauses im Zentrum von Boston. Mein erneuter Blick auf die Wanduhr verrät mir, dass ich noch ziemlich knappe 10 Minuten habe, um ein paar Cornflakes in mich hineinzustopfen, meine Sachen zu packen und mich fertig zu machen, bevor mein Bus ohne mich abfährt. Einige Minuten später stehe ich Zähne schrubbend in unserem kleinen Bad. Zu allem Überfluss bricht natürlich auch noch meine Zahnbürste durch, es dauert geschlagene 3 Minuten, bis ich eine neue gefunden habe, und aus der Zahnpastatube ist schon gestern der letzte Rest verschwunden. Um 7:03 Uhr sprinte ich, meine Brotdose in der Hand und meine Tasche halbherzig über die Schulter geworfen, zur 100 Meter entfernten Bushaltestelle mit dem leuchtend gelben Schild. Die Türen des Busses schließen sich, als ich hinein schlüpfe und beinahe mein linker Fuß eingeklemmt worden wäre.

Erschöpft schließe ich meine Augen. Schule ist Mord.. Jeder dumme Kugelschreiber hatte mich heute im Stich gelassen, die Kunststoffgläser meiner Brille hatten sich aus ihren Halterungen gelöst, was natürlich mal wieder richtig Stress geben würde, und die Impfung war auch nicht so gelaufen, wie ich es mir vorgestellt hatte. Stattdessen laufe ich mit einem dicken roten Arm und jeder Menge Kunststoffmüll der Kugelschreiber nach Hause, wo mich hoffentlich ein wenig mehr Glück erwarten würde. Womit habe ich so einen schrecklichen Tag verdient?! Doch schon als ich meinen rot verzierten Schlüssel in das Schlüsselloch der Haustür stecke, höre ich drinnen Geschrei und dabei bleibe ich nicht unerwähnt.

„Immer muss ich alles machen, kann Claire sich nicht mal bewegen, anstatt andauernd in die Stadt zu rennen und ihren Kleiderschrank zu überfüllen?!“ Kurz überlege ich, unauffällig wieder zu verschwinden, aber meine Chancen stehen nicht wirklich gut, dass diese Diskussion zu meinen Gunsten endet, also drehe ich den Schlüssel herum und das damit verbundene Klicken lässt die Streitereien verstummen. „Claire, kannst du…“ Ich renne, meine Mum ignorierend, durch den Flur und bin in meinem Zimmer, bevor sie den Satz zu Ende sprechen kann. Die Tür knallt, als ich sie hinter mir zu schleudere und ich lasse mich mit meinem Rücken an der Tür auf den Boden gleiten. Trotzdem weiß ich, dass ich mir morgen mal wieder mit vollen Einkaufstüten einen Weg zu unserem Apartment bahnen werde.

The oil disasterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt