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Müde schlage ich die Tür hinter mir zu, trete die Schuhe von den Füßen und schlendere in die Küche. Normalerweise ist Zoey nachmittags immer bei mir ... Heute wollte ich allein sein. Ich brauchte das irgendwie. Allein mit Shade, der durch meine Gedanken wandert wie ein Geist.

Meine Mum ist auch nicht da - in letzter Zeit ist sie beunruhigend häufig bei Dad um was zu "besprechen". Ich merke, dass etwas nicht stimmt. Jedes Mal, wenn Mum mich anlügt, hat sie diesen Blick in den Augen. Als würde sie sich das selbst nie verzeihen können. Dabei ist das nicht einmal so schlimm, das habe ich selber begriffen. Ich lüge sie schließlich auch an. Nur dass ich im Gegensatz zu ihr fürchte, dass sie mich nie wieder ansehen kann.

Shade wäre das egal gewesen.

Hauptsache du bist glücklich, hatte er immer gesagt. Solange du glücklich bist, brauche ich niemanden zu verprügeln.

Ich hatte immer nur über sein Großer-Bruder-Gehabe gelacht, doch jetzt vermisse ich es. Ich vermisse die Art, wie er mich ansieht, wenn ich über etwas rede; die Art, wie seine Augen leuchten, wenn ihn etwas begeistert. Seine kleinen blauen Wildblumen, die er mir immer vom Feld neben den Eisenbahnen geschenkt hat.

Ein tiefes Gefühl der Sehnsucht reißt an mir und ich zucke zusammen. Kurz sehe ich auf die Uhr, dann ziehe ich meine Stiefel an, schwinge einen Rucksack über meine Schulter, verlasse das Haus und schließe die Tür hinter mir ab. Eigentlich hatte ich überlegt, Mum einen Zettel zu hinterlassen, aber die Wahrscheinlichkeit, dass sie den noch sah, War ziemlich gering. Meistens übernachtete sie dort und kam morgens mit Brötchen als Wiedergutmachung.

Also lasse ich das Haus einfach hinter mir und stromere in Richtung Stadtende. Niemand hält mich auf - wieso auch? Ich bin nur ein liebes braves Mädchen und liebe brave Mädchen machen bekanntlich keine blöden Sachen.

Ich hatte noch nie auf das gehört, was die Mehrheit sagte. Ich hatte nur selten getan, was "normal" war. Normale Mädchen hatten keinen toten Bruder und gingen in ihrer Freizeit auch nicht auf Friedhöfe. Und laut ihrer Mum hatten normale Mädchen auch keine feste Freundin.

Und auch das war mir offensichtlich egal.

Ich durchquere die Stadtmitte und steuere auf die lädierte Absperrung neben den alten Bahngleisen zu. Hier ist fast niemand; ein einzelner Junge starrt mich mit großen Augen an, bevor er seinen Fußball nimmt und davon rennt. Ich verzeihe es ihm, während ich über das Geländer klettere und auf der anderen Seite wieder fallen lasse. Sofort ist der Anblick der Stadt hinter mir ausgesperrt.

Ich starre auf die Wiese vor mir, die verwachsenen alten Bahngleise und sauge gierig die frische Luft ein. Auf diesen Bahngleisen ist schon seit fünfzehn Jahren kein Zug mehr gefahren, das ist vollkommen ungefährlich. Nachts kommen manchmal Jugendliche her und machen "Party", aber tagsüber ist alles ruhig.

Ich hüpfe auf die Bahngleise und balanciere eine Weile dort vor mich hin, ein leises Lied summend, das Shade einmal auf dem Speicher während einem von Mums und Dads endlosen Streitereien gesungen hatte - um mich zu beruhigen. Es fühlt sich so an, als wäre diese Zeit ein halbes Jahrhundert entfernt.

Schade. Ich hatte dieses Lied geliebt und Shade ... er hatte so wunderschön gesungen. Noch etwas, das ich vermisse. Mum hat danach nie wieder gesungen. Sie hat mir auch nie wieder vorgelesen - vermutlich, weil es sie zu sehr an Shade erinnert. Ich kann es ihr nicht übel nehmen. Aber während sie versucht hat, jede Erinnerung an ihren Sohn zu verbannen, habe ich mich daran fest geklammert. Ich weiß nicht, was davon schlimmer ist.

Ich weiß nur, so sehr ich auch mit Zoey glücklich bin, kann ich Shade nicht vergessen und sie erinnert mich so sehr an ihn, dass es weh tut.

Nachdenklich massiere ich meine Schläfe. Meine Kopfschmerzen haben in der letzten Woche extrem zugenommen, dafür aber auch meine wirren Träume. Träume, in denen Shade noch lebt; Träume, in denen er mit mir redet. Ich kann nicht leugnen, dass ich das Gefühl genieße, wenigstens für kurze Zeit wieder einen Bruder zu haben.

Zoey erinnert mich wirklich an ihn. Aber was wenn ...

Ich halte inne und beginne zu lächeln. Gegenüber von mir, links neben den Schienen wächst das Gras zu einer wilden Wiese und mittendrin ... Blaue Blumen. Wilde kleine Kornblumen wie die, die Shade mir immer geschenkt hatte. Unwillkürlich grinse ich, hüpfe von der Schiene und beginne, sie zu pflücken. Es sind so viele, dass man kaum ein paar vermissen wird.

Kurz setze ich mich in das hohe Gras, lasse die kühle Brise in der Sommerhitze über meinen Nacken fahren und genieße das Gefühl und den Geruch. So könnte ich fast wieder zurück sein ... wenn Shade mich von der Schule abgeholt und hier entlang nach Hause begleitet hat. Als Alles perfekt gewesen war.

Als ich einen kleinen Strauß beisammen habe, schlendere ich über die Gleise langsam wieder zurück. Ich brauche eine Weile um zu bemerken, dass die Geräusche der Schritte sich verdoppeln.

Ich sehe auf.

Auf den Schienen rechts von mir balanciert Shade, die Hände von sich gestreckt. Er sieht gut aus; die dunklen Haare spielen um sein blasses Gesicht, das weiße Shirt bildet einen perfekten Kontrast zu den schwarzen Jeans und den schwarzen Locken.

Ich bin nicht einmal überrascht und eine Weile lang laufen wir einfach nur nebeneinander her.

"Hübsch.", merkt Shade dann und deutet mit leuchtenden Augen auf den Strauß in meinen Händen. Mein Herz macht einen Hüpfer. Das ist dieses Leuchten, das ich meine.

Ich nehme eine blaue Kornblume, die perfekt zu seinen strahlend bernsteinfarbenen Augen passt und reiche sie ihm über die Gleise hinweg. Er nimmt sie und steckt sie sich ins Haar. Grinsend sieht er mich an.

"Steht mir, oder?"

Ich nicke. Ich habe Angst, wenn ich etwas sage, wird er wieder verschwinden. Doch Shade plappert munter weiter.

"Diese Farbe schmeichelt deiner süßen Freundin.", neckt er mich. "Du solltest ihr auch eine schenken."

Ich lächle über diesen Vorschlag; er passt zu Shade. Doch plötzlich ändert sich der Tonfall in seiner Stimme; er ist jetzt mitfühlend und eindringlich.

"Ich hoffe, du weißt, dass du nicht allein bist, kleine Schwester.", sagt er ernst. "Es gibt noch einen."

"Wie bitte?", frage ich verdutzt, doch Shade ist verschwunden und die Blume mit ihm.

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Hey! Sorry, dass ich mich so lange nicht gemeldet habe. Neues Kapitel, voilá! Was haltet ihr davon?
Eure Luna

PS: Schreibt mir, wo es aufhört. Bei mir wirds immer so komisch angezeigt. Danke :)

Bevor ich sterbeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt