Als ich am nächsten Morgen die Augen aufschlage, hockt Shade neben mir. Unwillkürlich breitet sich ein kindisch glückliches Lächeln auf meinem Gesicht aus, das meine Mundwinkel nach oben zieht. Sofort setze ich mich auf und sauge Shades Anblick in mich auf. Er scheint nicht eine Sekunde gealtert zu sein, seit ich ihn das letzte Mal gesehen habe, aber ich bekomme nicht genug davon, ihn wirklich wieder zu sehen.
"Hi.", sage ich glücklich und starre ihn an.
Er lächelt und seine bernsteinfarbenen Augen leuchten auf wie ein warmer Sonnenstrahl am späten Nachmittag.
"Hallo, kleine Schwester."
Ich richte mich auf, berühre ihn jedoch nicht; aus Angst, er könne verschwinden. Es ist merkwürdig, da er ohnehin scheinbar ein Produkt meiner Gedanken ist, doch etwas in mir sagt, dass ich ihn besser nicht anfassen sollte.
"Du hast meinen Bruder gemeint ... habe ich Recht? Unseren Bruder -- Milo, meine ich. Er ist ... ich habe ihn gesehen, im Krankenhaus. Er ist ... ich weiß nicht."
Ich verstumme unwillkürlich. Ich habe schon bevor ich zu dem Gespräch mit Mum beim Thailänder gewünscht, dass ich noch einmal mit Shade reden könnte, um das Gefühlschaos in meinem Kopf zu sortieren und jetzt, da er tatsächlich bei mir ist, sind die Worte auf meiner Zunge erstorben.
"Ich weiß, keine Sorge." Shade legt den Kopf schief und lächelt geheimnisvoll. "Du berichtest mir immer alles, schon vergessen?"
Oh mein Gott ...
"Du meinst meine Briefe?", frage ich aufgeregt. "Bekommst du die wirklich? Ich meine ... du kannst das lesen?"
"Natürlich." Shade klingt überrascht. "Ich lese alles, was du schreibst. Und ich bin immer bei dir, wenn du an mich denkst, auch wenn du mich nicht immer sehen kannst."
Ich zögere. "Kannst du auch Milo manchmal sehen?", frage ich dann leise; eine weitere Frage spukt in meinem Hinterkopf herum.
Shade sieht mich ernst an und diesmal ist nichts Spaßhaftes in seinem Blick; nur Trauer, Schmerz und Wissen.
"Ja.", sagt er. "Jedes Mal, wenn er dem Tod nahe ist."
Ich schlucke. Also ist meine Krankheit vermutlich weiter fortgeschritten, als ich es bisher geahnt hatte. Warum macht mir das eine solche Angst? Ich kann kaum atmen, als hätte jemand ein Seil um meine Lungen geschlungen. Das Blut pulsiert so laut in meinen Adern, dass ich kaum etwas anderes hören kann.
"Du meinst ..."
Wieder legt Shade sanft den Kopf schief, nimmt mir jedoch nicht die Bürde des darauffolgenden Satzes ab. Er weiß, wie wichtig das für mich ist. Ich schlucke erneut.
"Du meint, ich sterbe?", flüstere ich dann. "Endgültig?"
"Nein." Seine Stimme ist dunkel, aber weich, wie geschmolzene Butter auf heißem Toast. "Nein, du hast noch Zeit, kleine Schwester. Du darfst keine Angst haben. Die Angst bremst dich nur, sie lässt alles verschwimmen, bis nur noch du in einem kleinen Loch der Furcht gefangen bist. Mach diesen Fehler nicht, ich bitte dich."
Ich starre eine Weile lang auf meine Hand, die auf der Bettdecke liegt -- nur Millimeter von der seinen entfernt. Beide sind blass und schlank; meine ist voller Farbe und Tintenkleckse vom Malen und Schreiben -- seine besitzt die kalte Schönheit des Todes. Heiße Tränen schwimmen in meinen Augen.
"Was soll ich jetzt machen?", bringe ich schließlich hervor.
Shade seufzt leise und es klingt, als würde eine frische Morgenbrise durch mein Zimmer wehen. "Alles, was du willst."
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Bevor ich sterbe
RomanceAlexia, genannt Alex, hat ein kompliziertes Leben. Nachdem ihr großer Bruder Shade mit fünfzehn gestorben ist, ist für sie eine Welt zusammengebrochen und sie war nie wieder die selbe. Doch das Leben zwang sie weiter und als sie mit ihrer Mutter in...