Als ich am nächsten Morgen in meinem Bett aufwache, habe ich eine kurze Zeit lang Probleme, mich zu erinnern, wie ich hier her gekommen bin. Irritiert starre ich an die Decke und versuche mich zu erinnern. Die Erinnerungen kommen nur in Bruchstücken.
Die Zuggleise. Shade. Meine Erinnerungen.
Es tat weh, aber es war auch gut. Es war gut, sich wieder zu erinnern und diese Gedanken und Sehnsüchte und Gefühle wieder in mein Leben zu lassen, nachdem ich sie so lange ausgesperrt hatte. Es ist, als würde die Wunde zwar aufreißen, aber nur um neu zu heilen. Hoffe ich zumindest.
Als ich die Beine aus dem Bett schwinge und auf die Füße komme, merke ich zu meiner Überraschung, dass meine Beine zittern. Kurz stütze ich mich an der Wand ab und warte, bis die wirbelnden Schwaden in meinem Kopf wieder zur Ruhe kommen. Dann erst setze ich meinen Weg nach unten fort.
Habe ich mir vielleicht ein Fieber eingefangen?
Das war eigentlich so gut wie unmöglich. Ich war nie krank gewesen. Die einzige Ausnahme war vor ein paar Jahren gewesen - als ich 13 war, hatte ich einige Monate lang Nasenbluten gehabt, doch in der Zeit hatte ich auch Stress in der Schule gehabt. Nichts wichtiges.
Vielleicht bin ich auch nur müde. Eine leichte Erschöpfung macht sich in mir bemerkbar, als ich mir einen Kaffee mache und mich in Mums Schlafzimmer begebe, nur um zu bemerken, dass sie immer noch nicht da ist. Oder schon wieder? Es verschwimmt alles allmählich; ich habe keine Lust die Stunden zu zählen, in denen sie da ist.
Ich trinke meinen Kaffee und zögere, dann ziehe ich mein Handy hervor und öffne den Chat mit Zoey.
> Hey Süße ♥
Hi! Was hast du heute vor? <
Ich überlege kurz.
> Ich gehe meiner Mum nachspionieren XD. Möchtest du heute Abend zum Essen zu mir kommen? Wir können einen Film schauen und ich koche. Diesmal verkacke ich es nicht, versprochen :)Kurz bekomme ich keine Reaktion und ich mache mir schon Sorgen, als Zoey wieder schreibt.
Ja, gerne. Bis heute Abend :*<
Ich grinse in mich hinein und mache mein Handy aus. Jedes Mal, wenn ich an Zoey denke, muss ich lächeln. Sie ist attraktiv und achtsam und anbetungswürdig und das sind nur die Adjektive, die mit "A" anfangen. Sie überrascht mich jedes Mal aufs Neue.
Aber aus der Sache mit Mum und Dad ... ich glaube, ich halte sie fürs Erste besser da raus. Mir macht das bisher nur Kummer und ich will sie nicht unglücklich machen. Ich überlege eine Weile lang, wo ich mit meiner Suche als erstes anfange, bis mir eine passende Idee kommt. Bei der Vorstellung kommt mir die Galle hoch, aber es muss sein.
Ich ziehe meine Schuhe über und ein frisches Shirt, werfe meine Tasche über die Schulter und mache mich auf den Weg zum Bahnhof.
_
Als ich in meiner alten Heimatstadt wieder auf dem Marktplatz stehe, laufen mir Schauder über den Rücken. Dabei ist es sogar warm und angenehm. Die Sonnenstrahlen bilden hüpfende Lichtpunkte auf den Pflastersteinen und das Wasser im Brunnen funkelt wie tausende glitzernder Steine. Die Menschen sind in einer angeregten Laune, eilen umher, plappern und erledigen Geschäfte. In der Luft liegt der Geruch von schwerem bis zu leichtem Parfum, Blumen, Essen und vielem anderen - zu viel, um es zu verarbeiten.
Und obwohl es angenehm warm ist und ich mich wohl fühlen sollte, ist mir kalt und ich komme mir seltsam einsam vor. Ich weiß, wo ich hin muss, aber ich freue mich nicht sonderlich darauf.
Ich überquere den Marktplatz, gehe um die Eisdiele herum und biege in eine Seitenstraße ein. Es ist dunkler hier; die Häuser stehen eng zusammen gedrängt da und ihre schiefen Dächer schirmen die Sonne ab. Dunkler und kühler.
Wie passend.
Ich eile durch die Gasse, weiche einer Klimaanlagen-Pfütze aus und halte meine Tasche fest an mich gedrückt, als würde sie mir Schutz geben. Das ist natürlich Blödsinn, aber es gibt mir ein besseres Gefühl. Trotzdem kann ich die eisige Kälte in meinem Magen nicht verleugnen, als ich im Hauseingang stehe.
Ich war schon seit Jahren nicht mehr bei meinem Vater gewesen und er hatte auch nie das Grab meines Bruders mit mir besucht, also verband ich nichts mit ihm, das mir etwas bedeutete. Und dennoch ... er schuldet mir etwas. Er hat mich von Shade fern gehalten, als er im Krankenhaus gelegen hatte, jetzt musste er das wenigstens ansatzweise gutmachen.
Ich strecke die Hand aus und klingele.
Die Tür wird fast sofort aufgemacht; ein leises Summen ertönt. Ich betrete das dunkle, muffige Treppenhaus und sehe nach oben. Durch die vielen Stockwerke nach unten schaut ein schmales, blasses Gesicht.
"Dad?", frage ich vorsichtig.
"Alexia? Mein Gott ..." Er klingt tatsächlich überrascht, aber kein bisschen schuldbewusst. Arschloch. "Komm hoch, lass dich ansehen! Möchtest du einen Kaffee?"
Obwohl mir allein bei dem Gedanken an Essen schlecht wird, nicke ich und begebe mich auf den Weg nach oben. Das Treppenhaus ist genau so dunkel und schlecht riechend, wie ich es in Erinnerung habe. Es stinkt nach kaltem Zigarettenrauch und alter Farbe und feuchtem Holz. Ich ignoriere meinen rebellierenden Morgen und meinen pochenden Schädel und beeile mich, auch den Rest der Stufen nach oben zu kommen.
Dad ist schon in der Wohnung verschwunden, hat aber die Tür offen gelassen. Ich betrete mit einem angewiderten Blick auf den Schimmel an der Decke im Flur die Wohnung ebenfalls und lasse die Tür hinter mir zufallen.
In der Wohnung ist es erstaunlich ordentlich, im Gegensatz zum Treppenhaus draußen. Die Wände sind in kahlen, aber sauberen Farben gestrichen - (der Flur ist weiß, das Esszimmer mit angrenzender Küche blau und das Wohnzimmer und Schlafzimmer in hellem, kalten Grau).
Ich stelle meine Tasche im Flur neben ein paar Schuhen ab und folge dem Geruch von billigem Kaffee in die Küche. Ich verstehe es einfach nicht. Der Mann hat mehr Geld als Mum und ich, ist allein in einer Wohnung und will nicht mal Geld für Guten Kaffee ausgeben.
Dad steht tatsächlich in der Küche und macht Kaffee. Das schwarze Haar fällt ihm in die Augen, seine Haut ist blass und er trägt einen Pullover, als wäre ihm kalt. Dabei ist es sogar warm hier drin.
Als er sich mit Tassen in den Händen umdreht, merke ich die dunklen Ringe unter seinen Augen und sein eingefallenes Gesicht.
"Ich nehme an, du bist wegen deiner Mum gekommen?", fragt er und seine Stimme hat einen bitteren Unterton. Als ich schweigend nicke, seufzt er nur. "Setz dich."_
Da bin ich wieder! Tja, Alex besucht ihren tollen Vater. Haha. Nein, Spaß.
Heute Abend kommt nochmal ein Kapitel; extra für IsiBam0.Eure Luna
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Bevor ich sterbe
RomanceAlexia, genannt Alex, hat ein kompliziertes Leben. Nachdem ihr großer Bruder Shade mit fünfzehn gestorben ist, ist für sie eine Welt zusammengebrochen und sie war nie wieder die selbe. Doch das Leben zwang sie weiter und als sie mit ihrer Mutter in...